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Europäische Oscar-Hoffnung: Filmkritik zu "Anatomie eines Falls"

Die erfolgreiche Autorin Sandra Voyter (Sandra Hüller) wird nach dem mysteriösen Tod ihres Mannes Samuel Maleski (Samuel Theis), der offenbar aus seinem Haus aus dem zweiten Stock in den Vorgarten gestürzt ist, verdächtigt, diesen getötet zu haben. Obwohl Sandra vehement ihre Unschuld beteuert, wird Anklage erhoben, weswegen sie den früher in sie verliebten Anwalt Vincent (Swann Arlaud) hinzuziehen muss. Zudem wird Sandras sehbehinderter Sohn Daniel (Milo Machado Graner) als wichtiger Zeuge hinzugezogen, da dieser eventuell zuvor ein Streitgespräch zwischen den Eheleuten gehört haben könnte. Die Gerichtsverhandlung droht jedoch rasch, zu einer Farce zu werden, da sich die Staatsanwaltschaft offenkundig auf Sandra einschießt und dabei harte Kaliber anführt, wobei auch prekäre Details ihrer Beziehung zu Samuel ans Licht kommen sollen...

Es war die große, deutsche Oscar-Hoffnung bei der vergangenen Gala im März 2024 und die ganze Welt berichtete über Sandra Hüller, die als Favoritin ins Rennen um die Prämierung für die beste Hauptdarstellerin des Jahres ging... und quasi über Nacht zum internationalen Star wurde. Hüller, die quasi zeitgleich auch im oscarnominierten "The Zone of Interest" eine tragende Rolle übernahm, zeigte sich dem öffentlichen Druck gewachsen und blieb dem weltweiten Publikum mit ihrer grandiosen Performance in "Anatomie eines Falls" nachdrücklich im Gedächtnis. Auch wenn es am Ende nicht zu einem Sieg reichte (gewonnen hat schließlich Emma Stone für "Poor Things"), war die Geschichte geschrieben und der Film gewann immerhin noch den Preis für das beste Drehbuch. An Hüllers darstellerischer Leistung gibt es dann auch nichts auszusetzen - gerade ihre ruhige Kraft, die erst später im Film recht eindeutig zerbricht, gibt dem Werk eine eigene, persönliche Note und einen Grundboden. Hüller ist in beinahe jeder Szene zu sehen, weswegen wir die Geschichte quasi aus ihren Augen verfolgen und ihre ambivalente Performance gereicht dabei perfekt zu durchgehenden Skepsis - denn bis kurz vor Schluss wissen wir tatsächlich nicht, ob ihre Sandra sich selbst und uns belügt oder doch gänzlich unschuldig daherkommt.
Und genau dieser kleine, wenn jetzt auch nicht himmelschreiend originelle Kniff macht den Reiz dieses zweieinhalbstündigen Justiz-Dramas aus. Denn wo andere Filme ihrem Publikum recht deutliche Sympathieträger*innen an die Hand geben, da weiß man hier nie, wem man eigentlich trauen soll. Einen Bären aufbinden könnten sie uns praktisch alle und jede neue Information lässt uns das Vertrauen in die wenigen Figuren auf eine erneute Probe stellen. Das ist dann, auch aufgrund der betulich ruhigen und deswegen auch irgendwie beunruhigenden Regie der oscarnominierten Justine Triet, ziemlich spannend und hat nur selten mit einigen Längen zu kämpfen. Darüber hinaus bietet "Anatomie eines Falls" dann aber doch erstaunlich wenig von dem, was man von einem Oscar-Kandidaten erwartet. Die feministische Komponente fällt erstaunlich schmal aus, ein aktuelles Thema wird hier auch nicht zwingend diskutiert und die Konflikte zwischen den Figuren sind zwar feurig, in ihrer Brisanz aber auch nicht unbedingt neu. Hier vergnügt sich der Film als spannendes und undurchsichtiges Justiz-Drama mit einigen flammenden Szenen vor Gericht, wenn der prekäre Fall von allen Seiten beleuchtet wird und gerade haltlose Vermutungen immer mehr Gewicht erhalten... nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Drehbuch ist dabei gut, ob ausgerechnet dieses, welches sich auch einige plakative Wendungen auf den Leib schreibt, nun aber wirklich oscarverdächtig ist, darüber lässt sich trefflich streiten.
Denn daran lässt sich so vielleicht auch ausmachen, warum "Anatomie eines Falls" beim Publikum zumindest ein bisschen schlechter wegkam als bei den ja geradezu jubilierenden Kritikern. Es ist nicht nur der klare Independent-Stil und die langsame, bisweilen etwas sperrige Inszenierung, sondern vor allem die Erwartungshaltung. Ich erwartete bei einem Film, der so prominent bei den Oscars platziert wurde, etwas mehr als nur ein wirklich gutes Justiz-Drama. Denn so spannend und überraschend das Werk auch ist, viel mehr ist es eigentlich nicht. Die sozialen Themen, die dabei angefasst werden, findet man in diesem Genre fast immer und etwas wirklich Neues wird ihnen hier nicht hinzugefügt. Die letztendliche, relativ klare Auflösung sorgt dabei auch nicht für Begeisterungsstürme, sondern lässt uns eher mit der Frage zurück, warum um all das nun ein solch großes Aufsehen gemacht werden musste. Das ist dann zwar Jammern auf sehr hohem Niveau, aber dennoch gerechtfertigt, gab es doch in den letzten Jahren intensivere und auch wirkungsvollere Justiz-Dramen.

Fazit: Sandra Hüller ist grandios, die Regie gefällt durch ihre ebenso ruhige wie deswegen atmosphärisch dichte Inszenierung. Der spannende Plot kann aber nicht immer darüber hinwegtäuschen, dass uns der Film wenig Neues erzählt und dabei wichtige Themen zu oft nur streift statt wirklich über sie zu sprechen.

Note: 3+



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