Direkt zum Hauptbereich

Gnadenlos ehrliche Milieustudie: Filmkritik zu "Sonne und Beton"

Der Jugendliche Lukas (Levy Rico Arcos) wächst im Jahr 2003 im Berliner Bezirk Neukölln auf. Zusammen mit seinen Freunden Gino (Rafael Luis Klein-Hessling) und Julius (Vincent Wiemer) verbringt er die Zeit des enormen Hitzesommers vor allem mit ziellosem Rumhängen, Kiffen und Pöbeln. Eines Tages bringt ihm allein das Betreten eines Parks jedoch großen Ärger mit einer gefährlichen Gang und hohe Geldschulden bei ebenjenen ein. Mit dem Rücken zur Wand und ohne weitere Aussichten muss Lukas eine kriminelle Straße befahren, um das Geld zu beschaffen. Dabei rutschen Lukas, Gino, Julius und der bald neu zur Clique stoßende Sanchez (Aaron Maldonado Morales) immer tiefer in den Sumpf der Kriminalität und verlieren jegliche Perspektive aus den Augen...

Die Verfilmung des teilweise autobiographischen Romans von Stand-Up-Comedian und Podcaster Felix Lobrecht war in Deutschland ein Riesenhit. Das dürfte nicht nur an Lobrechts großem Namen liegen, sondern auch an der Tatsache, dass man sich dem Brandherd Neukölln auf sehr realistische Art und Weise annimmt. Um seine Jugend so glaubwürdig und realitätsnah wie möglich auf die Leinwand bannen zu können, schlug Lobrecht sogar ein Angebot des Streaming-Giganten Netflix aus, die aus seinem Roman zuvorderst ein politisch korrektes Werk machen wollten. Die Version, die wir letztendlich zu sehen bekommen, ist sicherlich ungeschönter: In ungemein glaubhaften Slang-Dialogen mit allerlei wüsten Beschimpfungen lernen wir die vier Hauptfiguren und ihre eigenen Biografien kennen und erhalten ein Gespür für Zeit und vor allem Ort. Dabei macht der Film gesellschaftswichtige Themen auf, die auch heute noch Brisanz haben und zeigt anhand von mehreren, glaubwürdig geschriebenen Charakteren, wie der Ort des Aufwachsens und die sozialen Kontakte im familiären und freundschaftlichen Umfeld jegliche Perspektive auf eine solide Zukunft von vornherein zerstören können.
In jeder Faser dieser Milieu-Studie wirkt "Sonne und Beton" glaubhaft und brutal, auch wenn manche Themen nur angerissen werden. So zum Beispiel die schiere Ohnmacht der Lehrkräfte in den überfüllten Klassen oder auch die Geschichte manch eines Elternteils, die eine große Verantwortung bezüglich der Erziehung ihrer Kinder tragen. Um die Glaubwürdigkeit zu verstärken, wurden einige Nebenrollen förmlich direkt von der Straße gecastet und viele Cast- und Crewmitglieder brachten tatsächliche Lebenserfahrung aus Gangs, Cliquen und ähnlichen Wohnorten mit, um sich Slangs und körperliche Attitüden gar nicht erst unbequem draufschaffen zu müssen. Das gereicht letztendlich zu einer inneren Spannung, die man beinahe greifen kann. In einigen Szenen hat der Film die pure Angst, das Grauen eines solchen Ortes und der Menschen darin, so dermaßen gut im Griff, dass man sich wie Mittendrin fühlt. Ein frühes Highlight findet dabei in einer Straßenbahn statt: Die Panik vor einem bekannten Gesicht im Waggon, vor welchem der junge Lukas zuvor noch flüchtete, ist nicht nur von Levy Rico Arcos hervorragend gespielt, sondern auch in Sachen Kamera, Schnitt und Setdesign eine wirkliche Meisterleistung, die sofort Beklemmung auslöst.
Clevere Entscheidungen liefert der Film dabei in starker Abfolge, sodass kleinere Fehler kaum auffallen. Im Mittelteil hängt "Sonne und Beton" ein wenig durch, kann dafür aber auf sehr einnehmende Art und Weise die verschiedenen Gefühle eines solchen Lebens passend nebeneinander stellen - Angst, ja sogar Todesangst und Zorn stehen Hand in Hand mit Ausgelassenheit, Freude, den ersten sexuellen Erfahrungen und der Liebe zur Musik. Auch wenn sich dabei nicht immer ein dramaturgisch schlüssiges Gesamtbild ergibt, so fängt der Film zu jeder Minute die Welt der vier Hauptfiguren ungeschönt ein. Über die knallharte Musikuntermalung, die Setdesigns der verdreckten und völlig zugemüllten Hausflure im Ghetto und die Schauspielleistungen, die bisweilen nicht mehr als darstellerische Kunst zu erkennen sind, wirkt hier alles wie aus der Realität. Das ist nur möglich, da viele Beteiligte genau wissen, wie diese Orte nicht nur auszusehen, sondern sich anzufühlen haben. Und das macht aus "Sonne und Beton" einen Film, der tief schürft, der anstrengt und stellenweise schwer zu ertragen ist... und das ist genau richtig so.

Fazit: Dank einer realitätsnahen und sehr ehrlichen Inszenierung entsteht ein ebenso düsterer wie bisweilen erstaunlich humorvoller Einblick in die Berliner Ghetto-Szene - mit allen Höhen und Tiefen eines solchen Lebens. Ein grandioser, deutscher Film, trotz einiger Längen.

Note: 2



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Eddie the Eagle - Alles ist möglich

"Das wichtigste bei den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme. Das wichtigste im Leben ist nicht der Triumph, sondern der Kampf." Dieses Zitat, welches den Film "Eddie the Eagle" abschließt, stammt von Baron Pierre de Coubertin, dem Begründer der Olympischen Spiele. Und es bringt den Kern der Geschichte, die in diesem Film erzählt wird, sehr gut auf den Punkt, denn um den Sieg geht es hier eigentlich nicht oder zumindest nicht sehr lange. Aber es wird gekämpft und das obwohl niemand dieses seltsame Gespann aus Trainer und Sportler wirklich ernstnehmen wollte - genau das ist das Herz dieses Biopics, welches viele Schwächen, aber zum Glück auch viel Herz hat... EDDIE THE EAGLE Für Michael Edwards (Taron Egerton) gibt es trotz einer bleibenden Knieverletzung nur einen Traum: Er will in einer Disziplin bei den Olympischen Spielen antreten. Schon in seiner Kindheit scheitert er beim Hammerwerfen und Luftanhalten und landet schließlich, sehr...

Meine Erstsichtungen vom 08.07.24 bis zum 14.07.24

Girl You Know It's True: Musiker-Biopic von Simon Verhoeven, mit Tijan Njie, Elan Ben Ali, Matthias Schweighöfer, Bella Dayne, Mitsou Young und Graham Rogers Dem Film über das umstrittene Musik-Duo Milli Vanilli gelingt das Kunststück, einerseits ungemein unterhaltsam zu sein und andererseits einen der größten Skandale der Musikgeschichte zu erzählen, ohne ihn großartig auszuschlachten. Stattdessen gibt der Film den beiden verrufenen Künstlern ihre Würde zurück, indem er die Hintergründe des Aufstiegs und Falls der beiden Ikonen genau dezidiert und dabei nicht wütend mit dem Finger auf einen bestimmten Schuldigen zeigt - das ist dann auch für Kenner noch hochinteressant, bisweilen spannend und mit einigen emotionalen Tiefschlägen ausgestattet. Trotz einiger Längen hält Simon Verhoevens Regie den Film durchweg am Leben, die Musikszenen sind energetisch inszeniert. Zudem wissen nicht nur Tijan Njie und Elan Ben Ali in den Hauptrollen durchweg zu überzeugen, sondern auch Matthias Schw...

Cold Comes the Night

Die alleinerziehende Mutter Chloe (Alice Eve) leitet ein heruntergekommenes Motel, wo immer wieder zwielichtige Gäste eintrudeln und sogar die örtlichen Prostituierten ein Zimmer nehmen, um sich mit ihren Kunden zu vergnügen. Für Chloes Tochter Sophia (Ursula Parker) ist dies kein geeigneter Wohnort, findet das Jugendamt, und droht deswegen sogar damit, sie Chloe wegzunehmen. Als eines Abends ein mysteriöser Reisender (Bryan Cranston) um ein Zimmer für eine Nacht bittet und sich bereits am Empfang merkwürdig verhält, wird Chloe bereits hellhörig. In der Nacht fallen plötzlich Schüsse und zwei Bewohner der Appartements werden tot aufgefunden. Doch ist dies erst der Beginn einer wahren Tortur, durch welche Chloe in den nächsten Stunden noch wird gehen müssen... Es gibt durchaus einige Filme, bei denen ich mich nachträglich mehr als gewundert habe, warum diese nicht das Licht der Leinwand erblickt haben, sondern direkt für den Heimkinomarkt ausgewertet wurden - noch vor Zeiten von großen ...