Am 13. Oktober 1972 stürzt ein Flugzeug über den Anden ab, zerschellt an einem Berghang und verbleibt im Eis. Unter den achtundzwanzig Überlebenden finden sich Spieler und Angehörige der uruguayischen Rugby-Mannschaft Old Christians, die sich nach dem Absturz mit den gnadenlosen Wetterkapriolen der schneebedeckten und völlig vegetationslosen Natur um sich herum konfrontiert sehen. Zu Beginn glauben die Überlebenden noch an eine Rettung, doch nach einigen Tagen im Eis scheint sich zu bestätigen, dass auf Hilfe von außen nicht zu hoffen ist. Während erste Versuche unternommen werden, die gigantischen Berge um sie herum zu erklimmen, um vielleicht einen Weg zurück in die Zivilisation zu finden, müssen sich die Männer und Frauen fragen, wie weit sie gehen wollen, um zu überleben... und ob sie all ihre moralischen Grundsätze über Bord werfen müssen.
Das sogenannte "Wunder der Anden" gilt als eine der unglaublichsten Katastrophen-Geschichten der Menschheit. Schon im Jahr 1993 wurde der spektakuläre Stoff verfilmt - da ich "Überleben!" von Frank Marshall nicht gesehen habe, kann ich jedoch keinen Vergleich zu der ersten Verfilmung stellen, die damals direkt aus Hollywood kam. Regisseur J.A. Bayona hat zwar auch schon große Hollywood-Verfilmung (so inszenierte er unter anderem den zweiten Teil der "Jurassic World"-Reihe, "Das gefallene Königreich"), doch stammt der Stoff diesmal nicht aus Amerika, sondern aus Spanien und ging auch als Oscarbeitrag für den besten fremdsprachigen Film ins Rennen. Bayona hat mit Filmen dieses Kalibers bereits seine Erfahrung, war er doch ebenfalls verantwortlich für "The Impossible", wo er schon einmal eine furchtbare Katastrophe auf ebenso eindringliche wie emotionale Weise inszenierte. Ein solches Meisterstück gelingt ihm hier nicht erneut, was aber nicht auf seine Regie-Fähigkeiten zurückzuführen ist: Die einzelnen Momente des Grauens hat er hervorragend im Griff und schon der Flugzeugabsturz nach nur etwas mehr als zehn Minuten ist so intensiv und schockierend gefilmt, dass einem förmlich die Luft wegbleibt.
Dass diese Katastrophe schon so früh zu sehen ist, zieht jedoch auch einen Nachteil mit sich: Wir hatten zuvor praktisch keine Zeit, die vielen Figuren wirklich kennenzulernen und tun das auch im späteren Verlauf kaum. Bayona konzentriert sich vor allem auf eine Figur im Fokus und interessiert sich darüber hinaus vor allem für die Dynamik in der Gruppe, ohne weitere Charaktere genauer hervorzuheben. Deswegen verbleibt das Gros der Überlebenden zumeist eher oberflächlich und kann trotz der enormen Drucksituation und einigen schwelenden Konflikten keine richtigen Sympathiepunkte gewinnen. Man droht bei all diesen Figuren sogar bisweilen den Überblick zu verlieren und kann deswegen nicht immer ganz mitfühlen, wenn ein weiteres Todesopfer zu beklagen ist. Dies gleicht Bayona jedoch durch seine Inszenierung aus, die nie zu effekthascherisch daherkommt und angesichts der realen Tragödie stets respektvoll verbleibt, ohne jedoch einige Gräueltaten zu verharmlosen. Als solche ist natürlich das Thema der letztendlichen Nahrungsquellen zu nennen, was mehrmals schwer schlucken lässt und die größtenteils unbekannten Darsteller (was für mehr Glaubwürdigkeit sorgt) zu einigen grandiosen Leistungen anspornt. Sympathischer werden einem die Figuren dadurch natürlich nicht, doch gelingt es Regisseur Bayona dennoch, das Interesse an ihnen wachzuhalten, wenn sie gar furchtbarste Dinge tun müssen, um am Leben zu bleiben. Er verbietet sich dabei ein direktes Urteil, spart aber die grausigsten Emotionen nicht aus.
Da wir uns nicht direkt in die einzelnen Charaktere einfühlen, sondern viel mehr in die allgemeine Situation an sich, bleiben im späteren Verlauf einige Längen nicht aus - der Überlebenskampf ist brillant inszeniert und ohne Hollywood-Klischees herübergerettet worden, doch aus rein dramaturgischer Sicht dreht sich der Stoff ohne echte Figuren zum Festhalten bisweilen im Kreis. Dafür gibt es aber viel zu sehen. Getragen von dem starken Soundtrack von "Lost"-Komponist Michael Giacchino sind die Naturaufnahmen genau das, was sie sein sollen: Zum einen wunderschön, beinahe schwelgend, wenn die Sonne mehrfach über den prunkvollen Bergen aufgeht. Zugleich jedoch unerbittlich, gnadenlos, tödlich - beide Gefühle spielen bei den Naturaufnahmen stets ganz nah beieinander und machen "Die Schneegesellschaft" deswegen optisch zu einem Film, der gleichermaßen berauschend wie angsteinflößend und bedrückend daherkommt. Leider hat sich Bayona jedoch für ein Bildformat entschieden, welches eben diese Aufnahmen auf dem heimischen Bildschirm (hierzulande ist der Film exklusiv bei Netflix gestartet) kleiner wirken lässt - die schwarzen Balken fallen hier deutlich breiter aus als in anderen Werken, was sich von Beginn bis Ende als störend beschreiben lässt.
Fazit: Die reale Tragödie in den Anden wird von J.A. Bayona inszenatorisch wuchtig, aber niemals effekthascherisch inszeniert - mit einem ziemlich guten Ensemble und berauschenden Aufnahmen kann er jedoch einige Längen und oberflächlich gezeichnete Figuren nicht durchweg ausgleichen.
Note: 3
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