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Anora

Die junge Stripperin Anora Mikheeva (Mikey Madison) wird, da sie als einzige Tänzerin im Club russisch spricht, mit dem Kunden Ivan Zakharov (Mark Ejdelschtejn) zusammengebracht. Ivan ist sogleich hin und weg von der jungen Frau, besucht sie noch öfters im Club und bezahlt sie schließlich sogar für sexuelle Handlungen in seinem Haus. Da Ivan jedoch bald nach Russland zurückkehren muss, um dort einen Job in der Firma seines Vaters anzutreten, würden sich die beiden nie wiedersehen. Ivan hingegen ist mittlerweile so vernarrt in Anora, dass er ihr einen Heiratsantrag macht... und sie nimmt diesen an, in der Hoffnung, dadurch ihrem schnöden Leben entfliehen zu können. Die familiären Verstrickungen, die sie damit in Gang setzt, hat sie zuvor jedoch nicht einberechnet.

Es war ein ganz großer Tusch bei der diesjährigen Oscarverleihung - der vergleichsweise kleine Film "Anora" sammelte fünf Oscars ein (bei "nur" sechs Nominierungen) und zeigte bei gleich vier Hauptkategorien der wesentlich teureren Konkurrenz eindeutig die lange Nase, wobei auch große Favoriten wie "Emilia Perez" oder "Konklave" das Nachsehen haben mussten. Die größtre Überraschung war wohl, dass es letztendlich Mikey Madison war, die den Oscar als beste Hauptdarstellerin mit nach Hause nahm und nicht die im Grunde von vornherein festgesetzte Demi Moore für den Horror-Thriller "The Substance". Und mit diesen massiven Vorschuss-Lorbeeren waren meine Erwartungen schier astronomisch gestiegen. Ich liebte bereits Sean Bakers vorheriges Werk, den wunderbar unaufgeregten "The Florida Project", und war dementsprechend davon überzeugt, dass mich auch "Anora" begeistern würde. Umso enttäuschter war ich, als mich der Film dann über weite Strecken kalt ließ und über gewisse Strecken gar nervte.
Mit der Geschichte konnte ich ohnehin herzlich wenig anfangen, obwohl Regisseur Baker einen für ihn recht typischen Blick in das Leben einer jungen Frau wirft: Unkommentierend und ohne jegliche Vorverurteilung, clever beobachtend und inspizierend, aber niemals zu aufdringlich, taucht er hier ab in die Welt einer Stripperin und ihren wenig aufregenden Lebensalltag. Diese feine Milieustudie weicht jedoch alsbald einer etwas trocken vorgetragenen Liebesgeschichte, die sich im weiteren Verlauf dann zu einer wilden Komödie und auf den letzten Metern in ein Drama verwandelt. Das fühlt sich bisweilen, weil auch die Charaktere nicht immer passend geschrieben sind, etwa ungelenk und wie drei Filme in einem an, von denen aber keiner so richtig funktioniert. Gerade die Comedy-Elemente sind in ihrer wilden Hatz oftmals zu drüber, auch wenn Sean Baker dazwischen immer wieder kleine, feine Momente findet, die intimer, leiser und damit auch komischer daherkommen. Allerdings erzählt er in seinen 140 Minuten deutlich weniger, als er es hätte müssen und besonders die komplizierten Familienbande ziehen sich im Mittelteil deutlich hin, da hier sehr viel Zeit auf einen gewissen Konflikt verwendet wird, der im Kern eher flach ist.
Es gibt, neben der starken Regie von Sean Baker, dann jedoch eine Person, die diese ganze Nummer, die höchst unstet dahinzieht, grandios erdet - Mikey Madison. War es für mich erst noch schwer vorstellbar, dass ausgerechnet diese Nachwuchs-Schauspielerin, die zuvor vor allem im "Scream"-Franchise aufgefallen war, nun die grandiose Demi Moore ausstach, ergibt dies nach der Sichtung von "Anora" absolut Sinn. Madison ist der treibende Motor dieses Films, wild und ungezügelt auf der einen Seite, zugleich aber auch verletzlich und neugierig, zu gleichen Teilen naiv und clever. Die gewitzten Dialoge, die Madison absondern darf, verwandelt sie mit allerlei Esprit und ist darüber hinaus körperlich auch noch sehr mutig. Eine absolute Ausnahme-Performance, auf die hoffentlich in Zukunft noch mehrere folgen werden. Da kann der Rest des Casts nicht in direkte Konkurrenz treten, auch wenn ihr Co-Star Juri Borissow (der ebenfalls für einen Nebendarsteller-Oscar nominiert war, auch wenn das vielleicht etwas zu hoch gegriffen war) im späteren Verlauf noch ein paar richtig starke, vor allem aber auch sehr leise Szenen bedient, die ziemlich wuchtig ins Ziel treffen. Bezeichnend dafür ist auch die allerletzte Szene des Films, die so intim, so brutal wahr und einschüchternd ist, dass sie noch lange nachhallt. Leider hat "Anora" von diesen höchst vielschichtigen Momenten in seiner Gesamtlaufzeit aber deutlich zu wenige.

Fazit: "Anora" bietet eine phänomenale Leistung der Hauptdarstellerin Mikey Madison und eine clevere, einfühlsame Regie, darüber hinaus jedoch überraschend viel unpassendes Stückwerk. Die wilden Komödien-Elemente beißen sich dabei harsch mit den viel zu selten wirklich aufkeimenden Drama-Momenten, sodass der Film in erster Linie stressig ist, jedoch nicht im guten Sinne.

Note: 3-



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