Seit mehr als zehn Jahren war die neunundzwanzigjährige Rona (Saoirse Ronan) nicht mehr in ihrer Heimat auf einer zum Orkney-Archipel gehörenden Insel in Schottland. Dort läuft das Leben ganz anders als in der Millionenmetropole London, in welchem Rona fast jeden Abend durch verschiedene Bars schlendert. Dass sie ein schweres Alkoholproblem hat, weiß sie sehr gut. Mehr als nur einmal versucht sie, dieser Sucht Herr zu werden, doch Rückfälle machen ihr stets einen Strich durch die Rechnung, bringen sie desöfteren sogar in Lebensgefahr. Nach dem Aufenthalt in einer Entzugsklinik kehrt sie nach Schottland zurück und muss sich dort erst einmal mit dem deutlich langsameren, leiseren Tagesablauf aklimatisieren...
Nora Fingscheidt hat im Jahr 2019 einen der für mich besten, wenn nicht gar den besten deutschen Film aller Zeiten abgeliefert: Mit dem intensiven Drama "Systemsprenger" traf sie nicht nur bei mir einen Nerv, sondern schockierte und begeisterte Millionen von Zuschauern. Ebenso wie Hauptdarstellerin Helena Zengel, die anschließend mehrfach an der Seite großer Hollywood-Stars arbeitete, gelang auch Fingscheidt der Sprung nach Amerika, wo sie unter anderem für Netflix drehte. "The Outrun" ist ihr zweiter, internationaler Spielfilm und man kann hier sehr leicht die verschiedenen Stilmittel erkennen, die sie auch bereits in "Systemsprenger" anwandte, sodass ihr Regie-Stil hervorsticht. Leider hat sie sich dazu entschieden, noch mehr zu machen als nötig gewesen wäre, weswegen der Kern dieses bewegenden und bisweilen belastenden Alkohol-Dramas unter einem ganzen Berg von inszenatorischen Einfällen ächzt. Dabei sind die verschiedenen Off-Kommentare der Hauptfigur sowie lehrreiche (und teilweise sogar animierte) Sequenzen, in denen uns die Wirkung von Alkohol oder die Wetterverhältnisse in Schottland dargebracht werden, mal atmosphärisch, oftmals aber auch zu breit.
Bei einer Länge von guten zwei Stunden führt das zu einigen Hängern. Auch die Entscheidung, "The Outrun" nicht chronologisch zu erzählen, war nur eine semi-gute Idee. Ganz im Gegensatz zum erst vor wenigen Tagen hier besprochenen Drama "We Live in Time" fällt eine Orientierung hier bisweilen etwas schwer, wenn Fingscheidt die auf einer erfolgreichen Romanvorlage beruhende Geschichte hier arg sprunghaft, mit ständigen Hüpfern nach vorne und zurück erzählt. Als Ankerpunkt dient hier die sich wechselnde Haarfarbe der Hauptfigur, die uns immer wieder klarmacht, in welcher groben Zeit wir uns gerade befinden. Trotzdem wirkt diese sprunghafte Dramaturgie bisweilen etwas verwirrend, auch wenn damit ein packendes Auf und Ab der Gefühle greifbar wird. Wie bei einer wirklichen Alkoholsucht ist die Grenze zwischen echtem Frohsinn und schrecklicher, selbstzerstörerischer Depression eine ganz schmale, was Fingscheidt in passenden Bildern aufarbeiten kann.
Und dann ist da natürlich noch Saoirse Ronan, die in ihrer beeindruckenden Karriere wohl noch nie so exzessiv aufgespielt hat wie hier. Es ist ebenso erfrischend wie erstaunlich, die bereits vierfach oscarnominierte Schauspielerin hier mal in einer gänzlich anderen Rolle zu sehen, der sie dennoch ihren eigenen, bekannten Stempel aufdrücken kann. Alleine die erste Szene, wenn ihre Rona nach Party-Schluss in einer Bar abhängt, um erst grinsend und schließlich grausam eskalierend gegen alles und jeden zu schlagen, ist schauspielerisches Gold. Ronan macht die tiefen Ängste, die hohen Mauern und das Gefühl der unmöglichen Flucht aus ihrer Krankheit mehr als greifbar. Auf den Nebenschauplätzen wird ihr von großen Namen wie "Game of Thrones"-Star Stephen Dillane oder Paapa Essiedu (der in der kommenden "Harry Potter"-Serie die Rolle des Severus Snape übernehmen wird) gewissenhaft zugespielt, auch wenn die Bühne hier ganz klar Ronan gehört. Und die macht ihre Sache, wie eigentlich ja immer, mal wieder absolut hervorragend.
Fazit: Nora Fingscheidt's Alkohol-Drama leistet sich auf inszenatorischer und manchmal auch dramaturgischer Ebene ein paar Hänger und Patzer. Dagegen stehen jedoch atmosphärische Bilder und eine grandiose Saoirse Ronan in der Hauptrolle, die hier so exzessiv und geladen wie vielleicht noch nie die Leinwand auffrisst, ohne zu überzeichnen.
Note: 3
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