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A Real Pain

Die beiden Cousins David (Jesse Eisenberg) und Benji Kaplan (Kieran Culkin) reisen gemeinsam nach Polen. Dort wollen sie an einer Tour des Reiseführers James (Will Sharpe) teilnehmen, um auf diese Art und Weise ihre kürzlich verstorbene Großmutter zu ehren. Diese überlebte in jungen Jahren wie durch ein Wunder das Konzentrationslager, weswegen David und Benji verschiedene historische Stätten besichtigen wollen, um den Werdegang ihrer Großmutter besser nachvollziehen zu können. Die beiden so unterschiedlichen Cousins wollen auf der Reise zudem näher zusammenwachsen, nachdem sie sich für eine ganze Weile aus den Augen verloren hatten. Insbesondere Benji sorgt mit seinen ebenso emotionalen wie förmlich ungefiltert aus sich heraussprudelnden Empfindungen und Gefühlen jedoch dafür, dass die Reise für die gesamte Gruppe zu einer sehr besonderen wird...

Die zweite Regiearbeit des vornehmlich als Schauspieler arbeitenden Jesse Eisenberg hat mit Sicherheit auch biografische Züge, auch wenn diese hier nicht arg in den Vordergrund gerückt werden. Denn Eisenberg, der neben der amerikanischen auch die polnische Staatsbürgerschaft besitzt, hat seinen Film sicherlich nicht grundlos in Polen spielen lassen, wobei er den Hintergrund der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges nicht nur als emotionalen Ballast mitnutzt, sondern diesen wie selbstverständlich zu einer wirklichen Identität dieses Films werden lässt. Als stiller Höhepunkt wohnen wir dem Besuch eines Konzentrationslagers bei und hier zeigt sich dann noch einmal gesondert, wie enorm die Fähigkeiten Eisenbergs als Regisseur sind. Über den gesamten Film hinweg wirkt er wie ein Beobachter seines eigenen Werks, scheint sich selbst überrascht dabei zuzusehen, was er hier entwickelt, was er nach außen schält und auftreibt. Unaufgeregt, von einer tiefen Melancholie geprägt, dabei aber nicht steif oder trocken, beweist er einen Blick auf das Menschsein, den es so noch nicht oft gegeben hat. Er nimmt sich Zeit, seine Außenseiter zu erklären und ihnen in kleinen Manirismen einen Vertrauensvorschuss zu geben, den sie dann bravourös verwandeln. "A Real Pain" erzählt dabei zugleich von der Last einer historischen Verantwortung, aber auch von Menschen, die mit dieser Last umgehen wollen und müssen... und das hat nicht nur mit dem Holocaust zu tun.
All diese Eindrücke, die Eisenberg mit Hilfe seines unaufgeregten Regiestils, der wundervollen, musikalischen Untermalung und einer bemerkenswerten Kameraarbeit umfasst, bündeln sich schließlich in der Figur des Benji Kaplan. Wobei man diesen gar nicht so gesondert hervorheben kann, ohne die restliche Besetzung zu erwähnen, denn das spannende an dieser Figur ist weniger, wie er an und für sich ist (gerade sein persönlicher Background wirkt dabei fast schon zu melodramatisch), sondern wie er es vollbringt, andere Menschen für sich einzunehmen, ohne das wirklich zu wollen. In einer Schlüsselszene sagt David seinem Cousin, dass es diesem gelingen würde, einen Raum mit ganz besonderen Dingen zu füllen, woraufhin er dann darauf scheißen würde. Und dieser Figur dabei zuzusehen, wie er trotz oder gerade aufgrund seiner sehr speziellen und emotionelen Sichtweisen die Herzen anderer Menschen berührt, aufrüttelt und bisweilen regelrecht durch den Fleischwolf dreht, ist ungemein faszinierend und lehrreich. Benji Kaplan ist keine durchweg sympathische Figur, doch er weiß genau, was er fühlt und wie er sich fühlen sollte. Da wir direkt ins Herz dieses ebenso witzigen wie schlagfertigen, aber auch tieftraurigen Mannes blicken können, werden wir von seinen leisen Weisheiten ebenso eingenommen wie es die sympathische Reisegruppe tut, sobald sie sich selbst die Gelegenheit geben, sich den Empfindungen dieses jungen Mannes zu öffnen.
Und tut man das, sich einfach mal hinzusetzen und den anfangs etwas skurillen und dann plötzlich wieder umso wahren Fragen und Anregungen von Benji Kaplan zu lauschen, dürfte es unmöglich sein, von diesem nicht ebenfalls eingenommen zu werden. Auch dank eines brillanten Kieran Culkin ist dieser junge Mann eine der faszinierendsten und vielschichtigsten Filmfiguren der letzten Jahre. Die aber auch nur deswegen so gut funktioniert, weil Autor und Regisseur Eisenberg rund um diesen Charakter herum genügend Situationen und Menschen aufgebaut hat, die sich entweder an ihm reiben oder ihn würdevoll unterstützen können. Wobei man anfügen muss, dass jede Figur aus dieser Reisegruppe wahrscheinlich schon das Potenzial hätte, einen eigenen Film zu tragen. Doch darauf möchte und muss sich Eisenberg gar nicht ausruhen - er erzählt seine Nebenfiguren wie im Vorbeilaufen, als ob wir selbst im kurzen Vorbeischlendern einige Gesprächsfetzen aufschnappen würden, um uns darüber dann ein Urteil bilden zu können. Und so ist auch "A Real Pain" am Ende ein dauerhafter Konflikt, der nicht immer im Streit enden muss, sondern auch mal in einem Patt oder darin, aus einem Dialog etwas Lehrreiches mitgenommen zu haben. Und das sind dann sicherlich die weisesten und feinsten neunzig Minuten, die in den letzten Monaten des Kinos in unseren Schoß gefallen sind.

Fazit: Neunzig Minuten lang die Welt durch die Augen eines der faszinierendsten und spannendsten Filmcharakters aller Zeiten zu sehen, ist ein Geschenk. Klug, witzig und bewegend, bravourös gespielt und mit sicherer, gelenker Hand inszeniert - ein kleines Kino-Juwel, welches uns an die Hand nimmt, um uns zu lehren, aber auch zum Lächeln zu bringen.

Note: 2+



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