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Systemsprenger

Die neunjährige Bernadette Klaaß (Helena Zengel), von allen "Benni" genannt, wird als systemsprengendes Kind bezeichnet. Seit geraumer Zeit wird sie von einer Wohngruppe zur nächsten gereicht, über dreißig andere Einrichtungen lehnen eine Betreuung des Mädchens ab. Aufgrund der komplizierten Situation zu ihrer Mutter Bianca (Lisa Hagmeister) entwickelte sich Benni zu einem wilden Problemkind, welches an keinem Ort mehr Normalität erfahren kann. Erst als sich der barsch auftretende und Benni auf Augenhöhe begegnende Schulbegleiter Michael Heller (Albrecht Schuch) mit dem Mädchen auseinandersetzt und sie aus ihrem einengenden Alltag zu befreien versucht, scheint sie Fortschritte zu machen. Diese Fortschritte sollen jedoch auch Michael selbst in seinem eigenen Leben eingrenzen...

Als Debüt-Langfilm der Regisseurin Nora Fingscheidt, die sich über fünf Jahre mit dem Drehbuch beschäftigte und dessen Thema für sie weitaus mehr als eine Herzensangelegenheit war, mischte "Systemsprenger" erst die Berlinale auf und entwickelte sich im Jahr 2019 dann zu einem echten Arthouse-Erfolg in den Kinos. Wer auch nur ansatzweise mit dem Thema der Systemsprenger in Kontakt gekommen ist, wird sich der wilden Inszenierung anschließend kaum entziehen können. Fingscheidt verzichtet auf Verschönigungen, lässt die Sprache der Protagonisten und die wilden Wutanfälle, aber auch die beunruhigend einfühlsamen Momente, die Grenzüberschreitungen anderer Art, frei leben. Darüber hinaus überzeichnet sie jedoch auch nicht und beherrscht auch in der Zeichnung sämtlicher Nebenfiguren das lebensechte Portfolio - bis in die winzigsten Rollen ist hier niemand ein Klischee und auch die teils überforderten oder gar von Benni entnervten Erzieher werden niemals in negative Schubladen geschoben. Stattdessen zeichnet Fingscheidt ein entlarvend echtes Bild eines Systems, in welchem Kinder wie Benni offensichtlich keinen Platz haben.
Jeder Rückschlag, auch wenn man sie kommen sieht, schmerzt dabei umso mehr - so sehr wir auch wollen, dass Benni endlich ihren Platz im Leben findet, so sehr wissen wir, dass dies nicht so einfach möglich ist. Selbst dem System an sich kann man dabei keine komplette Schuld geben, denn auch dieses gerät aufgrund der komplizierten Umstände, mit denen die neunjährige Benni kämpfen muss, an seine Grenzen: Da, wo auch noch andere Kinder betreut werden müssen. Da, wo für andere Kinder und auch für Erzieher gar eine Gefahr herrschen könnte, wenn die kleine Benni plötzlich schreiend mit einem Küchenmesser durch die Einrichtung rennt. Durch die eindringliche, aber niemals hetzerische oder Vorurteile einnehmende Inszenierung gelingt dabei ein ungemein kraftvoller Film, der den Seelenschmerz eines Kindes bis ins Detail transportiert... dabei aber auch nicht die Menschen um sie herum vergisst, die durch dieses Kind verletzt werden. Ein ungemein schwieriger Spagat, den "Systemsprenger" mit Bravour nimmt. Insbesondere die Beziehung zwischen Benni und dem Erzieher Micha wird viel Aufmerksamkeit gewidmet, wobei der Film diese mit ungemein viel Herz bestückt - Herz, welches jedoch nicht immer dahin gehört, woraus das Werk einen neuen, extrem schmerzhaften Plot aufmacht.
Für die junge Helena Zengel bedeutete der Film einen Durchbruch, welcher ihr zuletzt auch die Türen nach Hollywood öffnete - dort spielte sie in dem Western "Neues aus der Welt" gar Superstar Tom Hanks an die Wand. Zengel zeigt hier, dass sie der womöglich vielversprechendste Deutsch-Export seit langer Zeit ist und implodiert förmlich mit einer mitreißenden, elektrisierenden Leistung. Natürlich sprach dann auch jeder über dieses schauspielerische Wunderkind, wobei die Leistungen der anderen Darsteller zu oft ins Hintertreffen gerieten. Doch ohne die fabulöse Kunst eines Albrecht Schuch könnte auch Zengel hier nur halb so gut sein - Schuch untermauert hiermit, dass er unter den deutschen Schauspielern weiterhin eine Sonderposition einnimmt. Erst durch die beiden Hauptdarsteller kann sich sowohl die Beziehung zwischen Benni und Micha als auch jeder Charakter für sich so gut entfalten, dass selbst der Zuschauer am Ende nicht mehr weiß, wie er einem von ihnen noch die Daumen drücken soll. So werden die Sackgassen aufgezeigt, die uns "Systemsprenger" am Ende mit aller Wucht vorführt. So schmerzhaft und zugleich so frei, so wild und rotzig und dann doch so herzlich und ehrlich... so war schon lange kein deutscher Film mehr.

Fazit: "Systemsprenger" ist der wahrscheinlich beste deutsche Film, den ich bisher gesehen habe - kraftvoll, unermüdlich, herausragend inszeniert. Mit Herz und Ehrlichkeit liegen Schmerz und Freiheit ganz nah beieinander, getragen von meisterhaften Leistungen all seiner Darsteller. Ein Meisterwerk des deutschen Kinos, ungeschönt und elektrisierend.

Note: 1






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