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Intelligente Sci-Fi... aus Deutschland! : Filmkritik zu "Paradise (2023)"

In einer nicht zu weit entfernten Zukunft ist das Biotech-Startup AEON in Berlin zu einem milliardenschweren Mega-Konzern gewachsen. Dieser nutzt die Technologie, einem Menschen Lebensjahre zu entnehmen und sie via Spende einem anderen Menschen zukommen zu lassen - ein sensationeller Forschungsdurchbruch, der jedoch auch seine Schattenseiten offenbart, wenn der Abzug von Lebensjahren alsbald als Finanzmittel oder sogar als Zwangsvollstreckung bei Geldschulden herhalten soll. Max (Kostja Ullmann) hat jahrelang erfolgreich für AEON gearbeitet, blickt nun jedoch persönlich hinter die Kulissen, als seiner Freundin Elena (Marlene Tanczik) vierzig Lebensjahre entnommen werden sollen. Um ihr gemeinsames Leben wiederherzustellen, beschließt er zu drastischen Mitteln zu greifen...

Die Prämisse kommt einem zumindest auf dem Papier ein wenig bekannt vor, denn schließlich griff auch schon der US-Thriller "In Time" das Konzept auf, in welchem Menschen zukünftig nicht mehr mit herkömmlichem Geld, sondern mit eigenen Lebensjahren für ihren morgendlichen Kaffee bezahlen. Wo der Film mit Justin Timberlake und Amanda Seyfried in den Hauptrollen jedoch schnell zu einem generischen Actioner verkam, setzt "Paradise" tiefer und auch früher an: In einer Zeit der Dystopie, als mit dieser Forschung noch ein wenig experimentiert wird und Menschen sich selbst aussuchen können, ob sie wirklich mit ihren eigenen Lebensjahren bezahlen wollen. Erschreckend genug, da auch hinter dieser "Selbstbestimmung" noch einige Fragezeichen stehen, wenn man sich die manipulativen Eigenschaften der sich vordergründig so gütig zeigenden Mega-Firma AEON ansieht. Die Grundidee und auch die weitere Überlegung in und um diese Forschung zeichnet "Paradise" zu Beginn intensiv und spannend. Dem Film gelingt es dabei, diese Art der Zukunftsversion nicht unwahrscheinlich wirken zu lassen, wobei recht clever aktuelle Themen eingeflochten werden - so zum Beispiel der mittlerweile abgewendete Klimawandel, der nur deswegen bekämpft werden konnte, da die reichen Menschen doch plötzlich eine höhere Lebensdauer aufweisen und deswegen am Wohl des Planeten wieder Interesse zeigten.
Solche intelligenten und niemals zu aufdringlichen Seitenhiebe gegen unsere heutige Geschichte (ein kleines Highlight stellt einen prominenten Nachrichtensprecher da - natürlich auch verjüngt) machen den Reiz dieses Filmes aus, bevor es mit der eigentlichen Geschichte so richtig losgeht. Und selbst als diese dann irgendwann dramaturgisch voll einsteigt, wandelt sich "Paradise" erst einmal in ein berührend erzähltes Drama, als Max und vor allem Elena auf einmal damit zurechtkommen müssen, dass sie urplötzlich um mehrere Dekaden gealtert ist. Das ist fein inszeniert, klug geschrieben (auch wenn einige Dialoge ein wenig schwülstig daherkommen) und von den zentralen Darsteller*innen überzeugend rübergebracht. "A Most Wanted Man"-Star Kostja Ullmann wirkt zwar nicht ganz entspannt, doch besonders Corinna Kirchhoff ist in der weiblichen Hauptrolle eine echte Bank. Andere Mitglieder des illustren Casts wirken nicht immer ganz glaubwürdig, was aber auch daran liegen könnte, dass das Drehbuch den Nebenfiguren wesentlich weniger Fleisch auf den Knochen gönnt als unseren Hauptakteuren. Die sind nämlich durchweg spannend in Szene gesetzt, wenn sie auch später noch einige moralisch höchst fragwürdige Entscheidungen treffen müssen, die klarmachen, dass hier keine Figur (auch nicht unsere "Helden") perfekt ist.
All diese Fragen zur menschlichen Moral, zu einer angsteinflößenden Dystopie (die aber auch erschreckend neugierig macht) und zur Menschlichkeit gegenüber der Forschung an sich gehen im letzten Filmdrittel ein wenig verloren. Hier beweist man zwar erneut, dass der deutsche Film rein inszenatorisch absolut Schritt halten kann mit internationalen Produktionen - die wenigen Actionszenen sind (bis auf eine ziemlich müde Mann-gegen-Mann-Choreo) wuchtig inszeniert, die visuellen Effekte können sich sehen lassen und besonders die Kameraarbeit ist in vielen Momenten absolut grandios. Trotzdem fällt auf, dass der Actionanteil in der an Wendungen nicht armen Geschichte, die somit auch für mehrere Überaschungen sorgt, exorbitant zunimmt - das geht in Szenen, die mehr an ein "Call of Duty"-Videospiel als an einen cleveren Sci-Fi-Thriller erinnern, dann doch zugunsten der ausführlichen Charakterzeichnung. Auch das Ende ist merkwürdig offen und lässt allerlei Handlungsstränge irgendwie unauserzählt zurück - es würde nicht wundern, wenn Netflix da bei einem Erfolg noch eine Fortsetzung nachschieben möchte. Die würde ich dann durchaus gerne sehen, denn die Dystopie ist zumindest spannend genug aufgebaut, um noch tiefer in sie eintauchen zu wollen. Und Potenzial für ein ganzes Franchise rund um die technische Zukunft Deutschlands ist definitiv gegeben, denn mit diesem Film zeigen wir erneut, dass wir mit genügend Mut für komplexere Stoffe und ohne das übliche Netz und den doppelten Boden durchaus starke Filme hervorbringen können. Gerne mehr davon!

Fazit: Obwohl dem deutschen Thriller gegen Ende aufgrund der Actionlastigkeit deutlich die Puste ausgeht, stellt er eine spannende Dystopie in Aussicht, die nicht nur stark inszeniert ist, sondern auch moralische Grundsatzfragen aufwirft und zum Nachdenken anregt. Spannende Unterhaltung!

Note: 3+



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