"Lion" ist einer von neun Filmen, die sich in diesem Jahr bei den Oscars Hoffnungen auf die Trophäe des besten Filmes machen durften. Letztendlich ging diese, wie wir nun alle wissen, an das bei uns erst diese Woche anlaufende Drama "Moonlight" und auch in den anderen fünf nominierten Kategorien ging "Lion" (wenn auch nicht sonderlich überraschend) leer aus. Im Grunde ist das auch okay so, denn der Film ist tatsächlich recht offensichtlicher "Oscar-Bait" (Stoff, den die Jury einfach ohnehin gut findet) und ist dabei, trotz bewegender Momente, niemals so gut, wie er eigentlich hätte sein müssen.
LION
Im Jahr 1986 verliert der fünfjährige Saroo (Sunny Pawar) während eines nächtlichen Ausfluges in seiner verarmten Heimat in Indien seinen großen Bruder Guddu (Abishek Bharate) aus den Augen, schläft in einem Zug ein und findet sich etliche Stunden später in Kalkutta wieder. Da er den Weg zurück nicht mehr findet, lebt Saroo fortan auf den Straßen, bis er schließlich von einem Kinderheim zu Pflegeeltern in Australien gebracht wird. Zwanzig Jahre später beginnt Saroo (jetzt: Dev Patel), nach seiner wirklichen Heimat zu suchen, wobei ihm die neueste Technik namens Google Earth helfen soll. Sein Erinnerungsvermögen macht ihm dabei jedoch immer wieder einen Strich durch die Rechnung...
Manch einer dürfte sich bei der Beschreibung dieser Story mehrfach an den grandiosen "Slumdog Millionär" erinnert fühlen, der 2009 acht Oscars gewann und auch heute noch zu überzeugen versteht. Und ja, auch bei der Betrachtung von "Lion" fühlt man sich an Danny Boyles Drama mehr als einmal erinnert, was besonders an den komponierten Bildern liegt, die mit ebenso warmen Farben ausgestattet sind und auch die Location des Hauptteils der Handlung bietet natürlich einige Referenzen an das große Vorbild, wenn auf Züge gesprungen oder vollkommen überfüllte Bahnhöfe erkundet werden. Den intensiven Drive eines "Slumdog Millionär" erreicht "Lion" jedoch zu keinem Zeitpunkt und das obwohl die zusammengemischten Zutaten hier eigentlich einiges versprechen.
Die so tatsächlich passierte Geschichte verspricht viel Herzschmerz, die Schauspieler gehören zu den besten ihrer Zunft und durch die illustre Location würden sich tolle Bilder anbieten. Und all dies liefert der Film von Garth Davis auch: Es gibt einige sehr bewegende Momente, die Kameraarbeit ist grandios und verhilft zu einigen wahren Augenöffnern und auch die Schauspieler machen ihre Sache mehr als ordentlich. Neben einer starken Rooney Mara und einem Dev Patel, der seit seiner Hauptrolle in "Slumdog Millionär" anscheinend einiges dazugelernt hat überzeugen besonders Nicole Kidman in einer prägnanten Nebenrolle sowie Sunny Pawar als junger Saroo. Pawar fehlt es zwar manchmal an Ausdruck, dies macht er jedoch mit einem ungeheuren Charme wieder wett, sodass jede Nahaufnahme ein Genuss ist.
Das alles hält zwei Stunden lang immer wieder bei Laune, leider gelingt es Davis aber nicht, daraus auch einen wirklich ansprechenden Cocktail zu mixen. Die erste Hälfte, die fast ausschließlich Saroos Erlebnisse in Indien thematisieren, bevor er endlich den Kontakt zu seinen Pflegeeltern (Nicole Kidman und "Herr der Ringe"-Star David Wenham) aufbaut, ist hier deutlich zu lang geraten und spielt mit einer seltsamen Kalkulation. Die Macher lassen den kleinen Saroo von einer Situation in die nächste schlittern, wobei sie durch den mutigen Schritt, diesen Teil des Films durchgehend in Originalsprache mit Untertiteln zu belassen, eine starke Atmosphäre aufbauen. Leider gehen sie über etliche Szenarien viel zu rasch hinweg, nehmen hingegen in anderen Szenen stets das Tempo raus, was arg uneinheitlich wirkt. Die Macher scheinen nie genau hinzugucken, sondern liefern uns eher eindrückliche Bilder, weswegen ein wirkliches Eintauchen in diese Geschichte schwer fällt.
Dies wird uns in der zweiten Hälfte, nach einem recht plötzlichen Zeitsprung zwanzig Jahre vor in die Jetztzeit, zwar erleichtert, auch hier kommt "Lion" aber immer wieder nur schwer in Schwung. Zwar gefällt hier ein wirklich schön gemachter Subplot rund um die Probleme, die Adoptiveltern bei der Adoption eines Kindes aus ärmsten Kreisen bewältigen müssen, darüber hinaus traut man sich aber zu wenig. Viel zu oft flüchten sie sich in Träume ihrer Hauptfigur, der nach und nach in kitschigen Bildern in Erinnerungen an seine Familie und seine wahre Heimat schwelgt, was beim Zuschauer Emotionen hervorrufen soll, auf Dauer aber nur kalkuliert und angestrengt wird. Die menschlichen Figuren leiden darunter, dass handlungstechnisch zu wenig geschieht, sich der Film angesichts der andauernden Hilflosigkeit seiner Hauptfigur im Kreis dreht und trotz eines bewegenden Schlussaktes einfach zu wenig zu erzählen hat. Die Geschichte ist eine sehr schöne, diese hätte man mit weniger aufgezwungenen Emotionen aber auch durchaus stärker umsetzen können.
Fazit: Regisseur Garth Davis erschafft eine starke Atmosphäre in traumhaften Bildern, wobei die Geschichte nie mithält, sich ab der Hälfte schier im Kreis dreht und immer wieder im Kitsch versinkt, was "Lion" einiges an Kraft kostet.
Note: 3-
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