Die erfolgreiche Fantasy-Autorin Carol (Rhea Seehorn), die vor allem bei der weiblichen Leserschaft aufgrund ihrer mehr als erotisch angehauchten Geschichten sehr beliebt ist, befindet sich gerade mit ihrer Freundin und Agentin Helen (Miriam Shor) auf einer Lesetour durch die Vereinigten Staaten. Carol möchte ihren künstlerischen Kummer im Alkohol ertränken, als um sie herum das Unfassbare geschieht: Die gesamte Menschheit, so scheint es, erleidet plötzlich eine Art Anfall - nur Carol ist nicht betroffen. In ihrer Panik versucht die Autorin, irgendwie ihre Agentin zu retten, wird dann jedoch Zeugin einer "Vereinigung" der Menschen, von der sie jedoch kein Teil sein kann. Diese Vorkommnisse scheinen in einem direkten Zusammenhang mit dem Ausbruch einer Art von Virus in einem abgeschotteten Labor zu stehen und einen Neuanfang für die menschliche Rasse zu bedeuten. Doch warum ist Carol davon kein Teil? Und ist die Menschheit überhaupt bereit für diesen Schritt?
Schon nach wenigen Minuten ist klar: Hier erwartet uns das spannendste TV-Mysterium seit dem Ende von Lost. Auch wenn hier schon sehr früh sehr klare Brotkrumen in eine gewisse Richtung gestreut werden und im Grunde klar ist, wer hier seine Finger im Spiel hat, so werden so viele kleine und große Mysterien gestreut, dass man schon nach der Halbzeit der ersten von neun Folgen absolut gebannt ist. Umso überraschender ist, wie schnell die Show mit klaren Antworten auf einige der wichtigsten Fragen um die Ecke kommt: Wofür Lost noch sechs (durchweg grandios unterhaltende) Staffeln brauchte, benötigt Pluribus nur ein, zwei Episoden. Das ist insofern aber erstmal gar nicht so erstaunlich, da hier natürlich Mastermind Vince Gilligan als Creator seine Finger im Spiel hat. Der bewies schon mit seinem Serien-Meisterwerk Breaking Bad, dass er sich gerne dramaturgischen Regeln entzieht und dabei dennoch eine unfassbar spannende Geschichte erzählen kann. Und so spielt er auch hier mehrfach mit den Erwartungen des Publikums, um plötzlich sehr schnell mit gewissen Fakten aufzuräumen und anschließend den Tonfall deutlich zu verschieben.
Dabei werden, wenn auch irgendwie versteckt unter dem oftmals sehr sarkastischen Ton der Serie, einige Fragen aufgemacht, die schier existenziell scheinen. Was bedeutet es, "individuell" zu sein? Sollte man seine Individualität aufgeben, um mit der Masse zu schwimmen und so ein offensichtlich besseres Leben für jedermann zu ermöglichen? Was ist eine einzelne Person? Dass Pluribus trotz dieser höchst komplexen Fragestellungen (und ihrer Antworten) niemals sperrig daherkommt, ist dem Inszenierungs-Genie Gilligan's zu verdanken, der hier mal wieder seine Fähigkeit präsentiert, eigentlich sehr, sehr störrische Handlungsfäden ungemein unterhaltsam abzubilden. Mit einer wunderbaren Schnittarbeit und Drehbüchern, die sich zwischen all den ganz großen Geheimnissen immer wieder viel Zeit für die kleinen, feinen und auch arg skurrilen Momente nehmen, bleibt die Show in der ersten Hälfte voll im Schwung. Mit Rhea Seehorn hat man zudem eine Hauptdarstellerin, die durch ihre tragende Rolle in Better Call Saul bereits Gilligan-erprobt ist und so herrlich schnodderig und moralisch flexibel daherkommt, dass die Show nie droht, an ihren eigenen, sehr hohen Ambitionen zu ernsthaft zu ersticken.
Es lässt sich aber auch nicht leugnen, dass die anfängliche Faszination aufgrund dieses hochspannenden Themas, seiner Weiterentwicklungen und der Vorstellungen dieser "Welt" später deutlich nachlässt. Aufgrund der bekannten Stilmittel des Breaking Bad-Creators, sich stets sehr viel Zeit für einzelne Szenen zu lassen und klare Handlungsfortschritte auch mal über mehrere Episoden hinaus zu schieben, fällt der herrliche Overkill der ersten Folgen später deutlich ab. Die Serie spielt dabei nie im Leerlauf und ist selbst dann, wenn die Handlung offenkundig auf der Stelle tritt, aufgrund ihrer verspielten Inszenierung nie in ein wirkliches Loch. Man merkt jedoch gerade im Mittelteil, dass die wirklich aufsehenerregenden Entwicklungen ans Staffelende geschoben werden und sich vorher nicht so viel tut. Man versucht, mit allerlei Charakterarbeit gegenzuhalten, bugsiert das fokussierte Geheimnis dabei aber auch lange herum und erreicht weniger moralische Ambivalenz als geplant - diese vorgestellte Welt übt anfangs aufgrund so vieler neuer Ideen deutlich mehr Faszination aus als später, wenn eben diese Ideen nur noch etwas vertieft, aber nicht mehr neu gedacht werden. Das Staffelfinale ist dann aufgrund seiner etwas zu lauen Abhandlung mit diversen Konflikten auch etwas schwach auf der Brust.
Fazit: Pluribus ist in seiner ersten Staffel mal wieder ein echter Geniestreich, der aber später deutlich nachlässt. Ein direkter Vergleich mit dem meisterhaften Breaking Bad verbietet sich aber nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Genres, sondern auch, weil Pluribus bis jetzt ja noch eher am Anfang steht. Man darf also mehr als gespannt sein, was Gilligan in der Fortführung aus diesem mordsspannende, aber bisweilen auch etwas zerfaserten Gedankenexperiment macht.
Note: 3+
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