Was passiert, wenn die Menschheit nach und nach beginnt, ihre fünf Sinne einzubüßen? Wie das aussehen könnte, erzählte das tiefsinnige Drama "Perfect Sense" - intensiv und starbesetzt und mit einer wahrhaft erschreckenden Thematik gilt der Film für mich weiterhin als echter und vollkommen unterschätzter Geheimtipp. In "Die Stadt der Blinden" wird dagegen nur der Verlust eines einzigen Sinnes benötigt, um die uns bekannte Welt aus den Angeln zu heben. Was auch hier nach einer mehr als interessanten Ausgangssituation klingt, ist aber leider nicht mehr als diese, denn der Film driftet schon bald in arg konventionelle Handlungsmuster ab...
DIE STADT DER BLINDEN
Es geschieht von einer Sekunde auf die andere - ein Mann erblindet am Steuer seines Wagens. Was erst als seltsamer Einzelfall behandelt wird, entwickelt sich schließlich zu einer Epidemie: Überall auf der Welt erblinden Menschen, darunter auch ein Augenarzt (Mark Ruffalo). Die Regierung greift kompromisslos durch und lässt alle Opfer der Krankheit unter eine bewachte und menschenunwürdige Quarantäne stellen, in welche sich auch die Frau des Arztes (Julianne Moore) einschleicht... die jedoch als einzige aller Anwesenden noch sehen kann. Es dauert nicht lange, bis die Situation in der "Stadt der Blinden" eskaliert.
Die Ausgangssituation ist eine erschreckende und in der ersten halben Stunde verleiht Regisseur Fernando Meirelles dieser auch einiges an Gewicht. Die plötzlich einschlagende Blindheit, die sich über simple Virenansteckung immer weiter verbreitet, das Verkehrschaos auf den Straßen, eine vollkommen hilflose Regierung, der Schock der Menschen, als sie plötzlich die Kraft des Sehens verlieren. Meirelles beweist, dass er diese unmöglich zu fassende Verstümmelung der Sinne kraftvoll inszenieren und den Mensch emotional ansprechen kann, ohne dabei zu sehr in Überzogenheiten abzudriften - in der ersten halben Stunde packt uns dieser Film ungemein, indem er einzig und allein genau das präsentiert, von dem wir bereits wussten, dass es passiert.
Wie es weitergehen würde, das wissen wir nicht... und vielleicht wäre es besser, wenn wir es auch einfach weiterhin nicht gewusst hätten, denn kurz nachdem der Film den Hauptteil seiner Handlung in die titelgebende "Stadt der Blinden" (eine brachliegende Quarantänestation, auf der alle Infizierten sich selbst überlassen werden, da kein Arzt es wagt, sie aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr zu betreten) begibt, ist ein deutlicher Qualitätsverlust zu bemerken. Ab diesem Moment gleitet man nämlich schließlich doch noch in die ebenso ausgelatschten wie mittlerweile arg konventionellen Muster eines Endzeit-Filmes ab - Gruppen spalten sich auf, ein Mann übernimmt die Kontrolle und herrscht anschließend über alle anderen Blinden, natürlich mit ebenso bösen wie selbstsüchtigen Absichten. Was in einer TV-Serie wie "The Walking Dead" dank der sich langsam immer weiter zuspitzenden Handlung noch bis heute in jeder einzelnen Folge funktioniert, wirkt hier nur noch lächerlich und banal abgekupfert.
Alles geht unglaublich schnell und wirkt eher so, als würden die Macher ihr Publikum mit einer prikären Lage nach der anderen schocken wollen - über eine Entwicklung der Charaktere oder dem Erstellen einer bleibenden, bedrückenden Atmosphäre wird hinweggesehen. Stattdessen verliert Meirelles mit zunehmender Dauer die Kontrolle über seine Bilder und lässt eine gewohnt starke Julianne Moore als einzig Sehende die Heldenrolle ausfechten - allerdings erst, wenn Figuren und Zuschauer zuvor bereits einiges erdulden mussten, denn sonst hätte man den Film ja auf gut eine Stunde runterkürzen müssen, was so natürlich nicht geht.
Natürlich nimmt sich das Werk als heftige Kritik auf unsere derzeitige, soziale Lage und natürlich soll der Zuschauer das Gesehene moralisch einordnen und sich fragen, was er an Stelle der Charaktere wohl getan hätte. Nur sind all diese Themen und Fragen nicht neu und wurden in anderen Filmen bereits wesentlich intensiver, cleverer und inszenatorisch wertvoller umgesetzt. Hier scheint es nun so, als würde sich Meirelles zwar trauen, eine Vergewaltigung aufzuzeigen, den letzten Schritt aber dennoch nicht gehen. Die Brutalität bleibt eine rein körperliche, die psychische bleibt dabei eine reine Behauptung. Antworten, was genau hier eigentlich geschehen ist und wieso gerade die Frau des Arztes als einzige damit gesegnet ist, ihr Augenlicht nicht einzubüßen, bleibt man dem Zuschauer schuldig, aber das ist, ebenso wie das vorhersehbare Ende, halb so schlimm. Viel schlimmer wiegt die Tatsache, dass der "Stadt der Blinden" nach einem starken Beginn die Emotionen verlorengegangen sind und man sich in den Klischees des Genres suhlt, ohne eine eigene Ausdrucksform oder eine eigene Seele zu finden. So wirkt der Film hier doch nur blass.
Fazit: Regisseur Meirelles erschafft in der ersten halben Stunde eine intensive Endzeitstimmung, driftet anschließend jedoch in unangenehme Klischees ab. Gefühle bleiben Behauptung, der Schrecken wird nur oberflächlich thematisiert. Das Potenzial einer solchen Geschichte wurde leider nur zu Beginn herausragend genutzt.
Note: 4+
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