Im Jahr 1918 lebt die junge Pearl (Mia Goth) auf einer von der Außenwelt weitestgehend abgeschnittenen Farm. Ihr Ehemann Howard (Alistair Sewell) ist in den Krieg gezogen und hat Mia somit mit ihrer strengen Mutter Ruth (Tandi Wright) und ihrem Vater (Matthew Sunderland), der als Pflegefall praktisch durchgehend auf Hilfe angewiesen ist, zurückgelassen. Besonders ihre Mutter engt Pearl durch ihre eiskalten und höchst strengen Erziehungsmethoden ein - die junge Frau sehnt sich hingegen nach einem Leben im Scheinwerferlicht und möchte als Tänzerin endlich den großen Durchbruch schaffen. Diese Möglichkeit scheint ihr durch einen charmanten Filmvorführer (David Corenswet) zu winken, welcher Pearl Hoffnungen auf ihren Traum macht. Doch um diesen wirklich nachzugehen, muss sie sich endlich von Mutter und Vater abnabeln... und auch von ihrem Ehemann.
Was nun in der reinen Handlungsbeschreibung nicht wie ein Horrorfilm klingt, ist zu weiten Teilen aber genau ein solcher - genauer handelt es sich hier um das back to back mit dem Original abgedrehte Prequel zum Slasher "X", erneut unter der Regie von Ti West, und diesmal die Geschichte der verrückten Seniorin erzählend, die im Quasi-Vorgänger noch für den Tod manch eines Protagonisten verantwortlich war. Und schon hier beweist West im Grunde bevor der Film überhaupt angefangen hat, dass er so originell und stilvoll wie nur wenige Horror-Regisseure unserer Zeit arbeitet. Allein das Casting ist ein genialer Schachzug für sich, spielt hier doch erneut Mia Goth die Hauptrolle, die in "X" sowohl eine völlig andere Rolle spielte als auch eben die steinalte Pearl, verborgen unter einer grandiosen Maske. Und wer sich noch erinnert, wie diese Seniorin damals über die von Goth gespielte Schauspielerin Maxine sprach und Parallelen zu ihrem jüngeren Ich erkannte, der dürfte aufgrund der Entscheidung, dass eben jene nun auch ihre jüngere Version spielt, gleich aufjubeln. Mehr Meta geht praktisch nicht... mal ganz davon abgesehen, dass jeder Horrorfilm mit Mia Goth in der Hauptrolle rein schauspielerisch stets ein echtes Ereignis zu werden droht.
Das ist nun auch hier so und zeigt zum ersten Mal ganz klar, dass Ti West's Horror-Trilogie (der dritte Teil "MaXXXine" erschien zwei Jahre später und wird hier am morgigen Tag besprochen werden) voll auf die Hauptdarstellerin zurechtgeschnitten wurde. Ohne Goths einnehmende Performances würde die Reihe wohl völlig auseinanderfallen und es ist praktisch nicht möglich, den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden, in dem sogar dann so viel zu lesen ist, wenn sie fast nichts tut. Goth gelingt es, den absoluten Wahnsinn, der bereits in ihr schlummert, aber noch nicht herausgebrochen ist, durchgehend spürbar zu machen und dennoch ein tiefes Mitgefühl für diese ebenso tragische wie verlorene Figur auszulösen. Tatsächlich präsentiert uns Regisseur West hier nämlich nahezu ein ABC des Entstehens einer Serienkillerin - man kann zu jeder Sekunde vollkommen nachvollziehen, wieso diese Frau letztendlich völlig den Verstand verliert. Dabei macht er die Nebenfiguren, die sich mal von Pearl angezogen und mal von ihr abgestoßen fühlen, ebenfalls zu interessanten, handelnden Wesen, die zwar im Schatten der Hauptrolle agieren, aber nicht als bloßes Kanonenfutter verheizt werden.
Wests eingängiger Regiestil, der mit seinen knalligen Farben und grobkörnigen Bildern quasi durchgehend eine stilvolle Verbeugung vor dem Technicolor-Zeitalter ist, funktioniert auch hier. Die wenigen Gewaltspitzen sind im Vergleich zum Vorgänger allerdings weniger explizit (eine prägnante Szene eventuell ausgenommen), weswegen die höhere Altersfreigabe wohl eher daraus resultiert, dass die Täterin hier zugleich auch die Hauptfigur und somit eine Art Sympathieträgerin darstellt - damit muss man emotional auch erst mal umgehen können. Ansonsten verzichtet West auf ausgelutschte Horror-Klischees, was dieses Prequel auch besser als "X" werden lässt, der im letzten Drittel ja doch recht einfallslos auf eben diesen Trittbrettern herumrannte. Prinzipiell wertet die Vorgeschichte diesen sogar noch ein wenig auf, da wir nun mehr Hintergrundinformationen über Figuren erhalten, die zuvor ein wenig unauserzählt daherkamen. Einige Längen gibt es dennoch: Wie zuvor spannt West sein Publikum bisweilen recht lange auf die Folter und verirrt sich ein wenig zu sehr in dem psychologischen Martyrium seiner Hauptfigur. Immerhin bleibt ihr Leidensweg so aber durchweg sehr greifbar, was ebenso fordernd wie packend ist.
Fazit: "Pearl" ist ein stilvolles, aufwühlendes und bisweilen regelrecht schweißtreibendes Prequel, welches stimmiger, einfallsreicher und tiefschürfender ist als das Original. Mia Goth ist in der Hauptrolle eine treibende, unnachahmliche Kraft und die psychologische Ausnahme-Reise ihrer Figur trifft mit voller Wucht in die Magengrube, auch wenn dafür manch eine überstilisierte Länge in Kauf genommen werden muss und der Film in der Summe nur wenige Überraschungen bietet.
Note: 3+
Kommentare
Kommentar veröffentlichen