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Blau ist eine warme Farbe

Drei Stunden? Wirklich drei Stunden? Eigentlich hatte ich den französischen Überraschungshit "Blau ist eine warme Farbe" bereits vergangene Woche sehen wollen, startete ihn bereits auf Netflix, bis mir die Laufzeit auffiel. Ein Blick auf die Uhr mitten in der Nacht und ich entschied mich für einen anderen, kürzeren Film. Normalerweise lasse ich mir von keiner Laufzeit in meinen momentanen Filmgeschmack hereinreden, doch fehlte in den letzten Tagen einfach die Zeit und die Ruhe, um mich drei Stunden lang auf die Couch zu setzen und einen einzigen Film dieser Länge zu sehen. Nun ist es mir jedoch gelungen und ich möchte keine einzige Minute, die ich mit diesem Werk verbracht habe, mehr missen.

BLAU IST EINE WARME FARBE


Die fünfzehnjährige Adele (Adele Exarchopoulos) geht noch zur Schule, steckt mitten in der elften Klasse und fühlt sich irgendwie alleine. Nach den ersten Erfahrungen mit einem gleichaltrigen Mitschüler fühlt sie sich nicht ausgefüllt... bis sie eines Tages eine Lesbenbar besucht und dort auf die junge Kunststudentin Emma (Lea Seydoux) trifft. Die beiden fühlen sich rasch zueinander hingezogen und treffen sich öfter - es braucht nicht lange bis zum ersten, intensiveren Kontakt. Adele jedoch kann nicht immer mit diesen neuen Erfahrungen umgehen und muss sich angesichts ihrer Sexualität auch mit ihren verständnislosen Mitschülern herumärgern. Einzig Emma selbst gelingt es, dem verlorenen Mädchen dabei die nötige Bodenhaftung zu verleihen...

Der Film wurde bei seiner Erscheinung von etlichen bösen Stimmen überschattet, die sich insbesondere gegen Regisseur Abdellatif Kechiche richteten. Crewmitglieder beschwerten sich über Schikane und unbezahlte Überstunden, die beiden Hauptdarstellerinnen versicherten, nie wieder mit ihm arbeiten zu wollen angesichts seiner herrischen und überperfektionistischen Art. Auch die Sexszenen sollten als Skandal gelten - Kechiche inszenierte das Annähern zweier junger Frauen als ausgedehnten Akt in etlichen Positionen, beinahe kamasutra-artig, was nicht jeder lustig fand. Nun kann man Kechiche offensichtlich wirklich vorwerfen, dass er seine Kollegen nicht gut behandelt hat und dass die Luft am Set eine wirklich Dicke gewesen sein muss, aber nichts dieser Art kann man dem Film, der daraus entstand, noch anlasten. 
Was immer Kechiche auch getan hat - auf der Leinwand bzw. dem Bildschirm entfaltet es seine einnehmende Wirkung. Er filmte viele der Szenen ungefragt hinter den Kulissen mit, weswegen viele Momente nicht nur ungespielt wirken, sondern es sogar sind. Über drei Stunden lang entfaltet "Blau ist eine warme Farbe" somit einen enorm realistischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann und dieser gestaltet sich insbesondere aus zwei Faktoren. Erstens: der riskanten Kamerainszenierung, die immer ganz nah an ihren Darstellern bleibt und den Film zu gefühlt neunzig Prozent aus Nahaufnahmen und Close-Up's bestehen lässt. Das ist nicht immer schön, aber durchgehend sehr enthüllend und entlarvend. 
Der zweite Faktor geht damit d'accord - was die leider seitdem nicht mehr international durchgestartete Hauptdarstellerin Adele Exarchopoulos hier abliefert, lässt sich nicht mehr mit brillantem Schauspiel beschreiben. Sie verschwindet vollkommen hinter ihrer Figur, keine Geste, kein Blick, nicht ein Wort wirkt in irgendeiner Form aufgesetzt. Die Kamera klebt an ihrem Gesicht und wir sehen alles, jede einzelne Facette ihres Ausdrucks und dennoch sehen wir niemals eine Schauspielerin, sondern eine junge Frau. Dass sie und ihre ebenfalls meisterhaft aufspielende, aber im Vergleich doch deutlich im Schatten stehende Kollegin Lea Seydoux (sie machte im Anschluss mit viel beachteten Werken wie "Spectre" und "Grand Budapest Hotel" noch eine große Karriere) dabei auch körperlich alles geben, ungemein mutig agieren und sich nie scheuen, wirklich alles von ihrem Körper preiszugeben und dennoch das künstliche des Filmsets offenbar vollkommen auszublenden, das ist eine Meisterleistung, die man beiden nicht hoch genug anrechnen kann. 
Der Zuschauer labt sich natürlich an dieser Form der Kunst, insbesondere in der ersten Hälfte, wenn die Geschichte noch ein ausgesprochen mutiges und sensibles Portrait einer jungen Frau zeichnet, die auf der Suche nach ihrer eigenen sexuellen Orientierung ist. Kechiche lässt sich sehr viel Zeit, weswegen die Figurenentwicklungen, aufkeimende Konflikte und die Liebschaften später umso mehr an Brisanz gewinnen. In der zweiten Hälfte verliert das Werk an Schwung: Adeles Suchen und Finden der großen Liebe ist wesentlich spannender und bewegender als alles, was später kommt, da sich Kechiche hier doch bisweilen in gestelzten Kunst-Dialogen wälzt und auch mit den Klischees eines Beziehungsdramas jongliert. Keine Frage, das ist immer noch ungemein gut, lebt von einer unaufgeregten und ehrlichen Inszenierung und den beiden Darstellerinnen, aber das Skript macht schließlich doch zu wenig daraus.

Fazit: Ungemein intensives, unaufgeregtes und sensibles Portrait einer jungen Frau. Auch wenn der Film in der zweiten Hälfte an Dringlichkeit verliert, ist es ein Werk, dass man dringend gesehen haben muss, gerade wegen der fast aufdringlichen, entlarvenden Inszenierung und einer Hauptdarstellerin, die durch diese Leistung jeden Filmpreis in greifbarer Nähe verdient hat.

Note: 2




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