Viele wollen die Oscars nicht mehr ernstnehmen. Wo es noch vor wenigen Jahren große Debatten bzgl mehrheitlich weißer Künstler gab, die nominiert und ausgezeichnet wurden und wo auch der "Me-Too"-Skandal zuletzt deutliche Spuren auf der Verleihung hinterließ, sehen andere eine Gefährdung der Glaubwürdigkeit, vermuten gar, dass afroamerikanische Darsteller nun wesentlich leichter einen Preis abstauben können, damit die Academy keinen weiteren Skandal riskiert. Nun war es aber noch nie so, dass wirklich jeder mit den Entscheidungen der Jury einverstanden war, ich natürlich auch nicht... was auch für die Verleihung im Jahr 2003 gilt. Denn sechs Oscars für das Jazz-Musical "Chicago" halte ich für eine maßlose Übertreibung.
CHICAGO
Als er seine Lügen offenbart und somit ihren Traum von einer großen Showkarriere platzen lässt, erschießt die junge Sängerin Roxie Hart (Renee Zellweger) ihren geheimen Liebhaber Fred Casely (Dominic West). Die Spuren sind eindeutig und Roxie wird ins Gefängnis und in den Takt für gefährliche Mörderinnen verlegt. Dort lernt sie auch ihr großes Vorbild, die Sängerin und Tänzerin Velma Kelly (Catherine Zeta-Jones) persönlich kennen und erhofft sich durch ihren Zuspruch einen Aufschwung ihrer Karriere. Doch um diese zu starten, braucht sie Hilfe und am besten ein Gerichtsverfahren, welches von der Presse begleitet wird. Deswegen engagiert sie den Staranwalt Billy Flynn (Richard Gere), der zuvor noch nie einen Fall mit einer weiblichen Angeklagten verloren hat...
Sechs Oscars gabs, darunter gar den für den besten Film des Jahres 2002. Das ist tatsächlich eine Übertreibung, denn laut meinem Empfinden ist das jazzige Musical, welches natürlich auf einer zuvor massiv erfolgreichen Bühnenshow beruht, nicht einmal wirklich gut und wird seit seinem Erscheinen maßlos überbewertet. Sicher, es gibt so einiges auf der Habenseite: Eine Handvoll Songs sind wirklich irrsinnig gut und werden sich zu waschechten Ohrwürmern mausern, die für ihre Rolle mit dem Nebendarsteller-Oscar ausgezeichnete Catherine Zeta-Jones ist schlichtweg phänomenal und auch Richard Gere war vielleicht seit "Pretty Woman" nicht mehr so verschmitzt, so charmant, komödiantisch so hervorragend aufgelegt - gegen ihre beiden Co-Stars spielt die eigentliche Hauptdarstellerin Renee Zellweger mit aller Wucht an und macht einen sehr guten Job, doch diesen Kampf kann sie letzten Endes natürlich nur verlieren.
Dann ist da auch noch die Ausstattungswucht, in welcher "Fluch der Karibik"-Regisseur Rob Marshall hier so leidenschaftlich fröhnt: Kostüme, Bühnen, Make-Up... auch dafür gabs in einigen Kategorien Oscars und diese sind sicherlich auch mehr als verdient, denn rein optisch ist "Chicago", der sich immer wieder urplötzlich in eine Bühnenshow verwandelt und somit den tristen Gefängnisalltag auf skurille Art und Weise vertreibt, ein kleines Meisterstück. Einen Oscar gabs auch für den besten Schnitt und hier beginne ich dann, nicht mehr einer Meinung zu sein. Gerade gegen Ende, wenn Catherine Zeta-Jones und Renee Zellweger eine gemeinsame Choreographie aufs Parkett legen, die in Sachen Stil und Energie schier den Atem raubt, hat Marshall seinen Film sehr gut im Griff... aber zuvor scheint es, als würde man seinen eigenen Choreographien, den tanzenden Darstellern (es gab keine Doubles, die Schauspieler tanzten und sangen selbst) und den brillanten, bunten Bildern nicht wirklich trauen.
Die ersten Songs werden dabei so übel zerschnitten, dass die eigentlich wirklich schönen Choreos in ihrer Form nur noch zu erahnen sind und auch im Mittelteil begeht man diesen Fehler, weswegen "Chicago" in vielen Momenten arg hektisch wird. Und dann ist da noch die Handlung an sich, die mich kaum zu Begeisterungsstürmen hinreißen konnte. Andere Musicals, wie der fünf Jahre später erschienene "Sweeney Todd", schafften es wesentlich besser, ihre teils obskure Handlung mit den passenden, menschlichen Emotionen zu versehen, die Figuren greifbar zu machen, obwohl sie sich offensichtlich fernab auf einer Bühne bewegen... einfach genau das, was Musicals eigentlich tun sollten.
"Chicago" gelingt diese schwieriger Gratwanderung nicht, die Gefühlslagen der erstaunlich kühlen Figuren werden nie wirklich sichtbar oder so überhöht und überdeutlich dargestellt, dass man sich nicht wirklich mit den Antiheldinnen verbünden will. Die Konflikte bleiben Schall und Rauch, im Fokus stehen die Musiknummern. Das hat dann Stil, aber auch kein Herz. Und ein Musical ohne Herz ist dann eben auch nur eine Gesangsnummer. Eine in optischer und choreographischer gute bis sehr gute... aber eben eine, die auch kaltlässt. Und das sollte einem Musical nun wirklich nicht passieren.
Fazit: Ausstattungswütig, von den Darstellern ebenso charmant wie energiegeladen vorgetragen und mit einigen rasanten Choreos, stilvoll. Die Handlung bleibt leider ein kalter Fisch und der hektische Schnitt lässt uns einige der aufwendigen Tanzszenen in diesem wirren Geschnippel nur noch erahnen.
Note: 3-
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