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Midsommar

Um den im letzten Jahr erschienenen Horror-Schocker "Hereditary" entstand in kürzester Zeit ein regelrechter Hype - Kritiker und Genrefans waren begeistert von dem Film, der sich vom Mainstream abhob und es schaffte, wahren Horror durch atmosphärische Details und einen komplexen Plot entstehen zu lassen, weniger durch laute Jumpscares. Der Mainstream-Zuschauer war enttäuscht, der Erfolg war dennoch gegeben. Nun startet der neue Film von Regisseur Ari Aster in den Kinos und gefühlt ist der Hype diesmal nicht halb so groß, auch wenn sich viele "Hereditary"-Fans dank der mal wieder sagenhaften Kritiken und des starken Trailers auf das neue Werk freuen... selbst ich, der "Hereditary" nur gut, aber keinesfalls meisterhaft fand, war wieder angefixt und hoffte, nach der Horror-Enttäuschung "Es 2" in diesem Monat noch einen wirklich starken Schocker im Kino sehen zu können...

MIDSOMMAR


Die Beziehung zwischen Christian (Jack Reynor) und seiner Freundin Dani (Florence Pough) kriselt schon länger und eigentlich hatte ersterer bereits seit einiger Zeit vorgehabt, diese zu beenden. Aufgrund einer schrecklichen Tragödie in Dani's familiären Umfeld hält sich Christian mit dem nächsten Schock jedoch zurück und lädt sie stattdessen ein, ihn gemeinsam mit seinen Freunden für einen Sommerurlaub nach Schweden zu begleiten. Christians Kumpel Pelle (Vilhelm Blomgren) gehört dort einer Dorfgemeinschaft an, die in diesem Jahr ein religiöses Fest feiert, welches so nur alle neunzig Jahre stattfindet - eine absolute Besonderheit also, die Christian und Dani auch erst durchaus anfixt. Doch schon bevor der erste Tag vorbei ist, merken die beiden, dass sich die Feierlichkeiten in eine andere Richtung entwickeln, als sie sich das zuvor vorgestellt hatten...

Tja, das ist doch durchaus schade. Als der Abspann von "Midsommar" nach beinahe zweieinhalb Stunden zu laufen begann, dachte ich, dass ich selten einen Film gesehen habe, der so eklatant abgestürzt ist, nachdem er sich lange Zeit so unfassbar brillant gehalten hat. Die ersten zwei Drittel des neuen Films von "Hereditary"-Regisseur Ari Aster gehören nämlich zum Besten, was das Horror-Kino in den letzten Jahren so auf die Leinwände losgelassen hat... und zwar genau deswegen, weil Aster sich dem Hui-Buh-Mainstream absolut nicht beugen will und stattdessen eine ungeheuer schneidende Atmosphäre entfesselt, die einen direkt in die Magengrube trifft.
Schon die ersten zehn Minuten zeigen hier, noch absolut ohne Anlehnung an den Hauptplot, der sich um die schwedische Kommune dreht, wie Aster die Daumenschrauben ohne Jumpscares, wilde Schnitte oder einen treibenden Soundtrack immer weiter anziehen kann. Mit wenigen Dialogen, glasklaren Aufnahmen und einem ungemeinen Gespür für Kameraarbeit und Schnitt entfesselt er eine familiäre Tragödie, die erdrückt und schockiert. Wir sind bereits nassgeschwitzt, dabei hat "Midsommar" noch gar nicht wirklich angefangen, bislang nicht einmal im Horror-Genre Platz genommen.
Im Anschluss nimmt sich der Film dann wagemutig viel Zeit - Zeit, um seine angenehm doppelbödigen und weitestgehend menschlichen Charaktere vorzustellen. Zeit, um ganz langsam, aber sicher eine grauenvolle Atmosphäre des erkennbaren, aber nicht wirklich greifbaren Schreckens über den gesamten Film zu legen. Aster braucht keine Jumpscares, keine hässlichen Fratzen, keine überbordende Gewalt (auch wenn es diese auf grauenvolle Weise dennoch zu sehen gibt) - er braucht einfach nur eine Ansammlung von originellen Figuren, einen schier mythischen Schauplatz und kleine Ideen. Der Rest, so scheint es, erledigt sich scheinbar von selbst und der Zuschauer erliegt dessen Pracht. Er stellt sich unwillkürlich Fragen: Was ist da nur los? Ist alles vielleicht nur ein Traum? Wer sind die Bösen und... gibt es sie überhaupt? In schwelgenden Bildern entsteht somit ein Horrorfilm der anderen Art - einer, der den Zuschauer psychisch fordert und ihn zwingt, seine eigene Meinung zum Geschehen zu hinterfragen.
Potenzielle Plotholes, die das Genre so mit sich bringt, kann Aster zu diesem Zeitpunkt noch passend füllen, so zum Beispiel die Frage, warum die Jugendlichen beim ersten Anzeichen von möglichem Inzest, Drogenmissbrauch und Mord nicht einfach Reißaus nehmen, warum sie sogar gerne dableiben. Da muss er nur ein paar kulturelle Diskussionen und Fakten ausgraben und der Zuschauer glaubt es, wird scheinbar selbst zu einem Mittäter oder einem Opfer der Kommune. Und genau diese Atmosphäre, dieser langsam erzählte und ungemein wirkungsvolle Plot gleitet Aster dann pünktlich zum überlangen Finale komplett aus den Fingern.
Dass es früher oder später noch zu gar ungehobeltem Wahnsinn kommen würde, war abzusehen, denn Andeutungen und Ausführungen hat es zu diesem Zeitpunkt en masse gegeben. Plötzlich scheint der Regisseur aber nicht mehr den Unterschied zwischen skurillem Grauen und überzeichnetem Über-Horror zu verstehen - spätestens, wenn ein nackter Frauenchor stöhnend zu einem Geschlechtsakt "singt", ist diese Grenze nämlich nicht nur überschritten, sondern gar gesprengt. Skurille Ideen sind ja schön und gut, in dieser Masse wirken sie aber vollkommen albern und überdreht, da sie die zuvor so perfektiös aufgebaute Atmosphäre vollkommen erdrücken.
Der Wahnsinn zeigt sich in enormer Brutalität, ist dabei aber auch so laut und gigantomanisch, dass man als Zuschauer schnell raus ist. Der reale Schrecken weicht einem Sammelsurium aus Seltsamkeiten, ohne wirklichen Zusammenhang, ein Klimax des Horrors, der einfach nur überzeichnet ist und gerade deswegen, trotz all des Bluts und des Wahnwitzes, kalt lässt. Hier rutscht Aster dieses vorhergehende Meisterwerk so eklatant weg, dass ich mich über die letzte Dreiviertelstunde nur noch maßlos geärgert habe: Hier wird gezeigt, wie man einen schier perfekten Film absolut zerlegen kann, wenn man seinem eigenen Stil nicht mehr vertraut. Eine Leidtragende ist dabei auch Florence Pugh, die als Hauptdarstellerin zuvor eine oscarwürdige Performance hinlegte und schließlich nur noch durchgehetzt wird - keine schöne Mischung.

Fazit: Die ersten zwei Drittel von "Midsommar" gehören zur Meisterklasse des Horrors. Eine schneidende Atmosphäre, brillante Darsteller, grauenvolle Momente, ein ungemein spannender und selbstreferenzieller Plot. Danach gleitet der Film aber so eklatant in überzeichneten und albernen Splatter ab, der keinerlei Sinn und Verstand mehr besitzt, dass man sich über solch vertane Chancen nur noch ärgern kann. Hier wurde ein Meisterwerk erschaffen, um es im Schlussspurt noch zu zerstören.

Note: 3+







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