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Ganz weit hinten

Wer meinen Blog bereits länger und intensiver liest, der weiß, dass ich nur in den allerseltensten Fällen die Höchstnote für einen Film vergebe. Gar wurde ich dafür bereits kritisiert, dass ich viel zu streng bewerten würde und einem Film die Note "2" vergebe, obwohl er doch eigentlich eine "1" verdient hätte. Mein Standpunkt ist dabei eigentlich simpel: Ein Film, der die Höchstnote verdient, muss in meinen Augen nahezu perfekt sein (vollkommen perfekt ist natürlich kein Film). Eine "2" ist in meinen Augen bereits verflixt gut, doch gibt es dabei dann eben auch noch kleine Knackpunkte, die die Höchstwertung verhindern... was nicht heißt, dass mich ein solcher Film nicht beeindruckt. Wenn es dann doch mal eine "1" gibt (zuletzt zum Beispiel für den meisterhaften "Avengers: Endgame"), muss dieses Werk für mich etwas veränderndes, etwas beispielloses haben. Und das kann manchmal wie aus dem Nichts kommen, wenn ich kaum damit rechne. Aus dem Nichts kam für mich auch "Ganz weit hinten" - ein 1er-Film, wie er im Buche steht.

GANZ WEIT HINTEN


Der vierzehnjährige, stark in sich zurückgezogene Duncan (Liam Jones) leidet stark unter der Präsenz von Trent (Steven Carell), dem neuen Freund seiner Mutter Pam (Toni Collette). Im gemeinsamen, mehrwöchigen Sommerurlaub kapselt Duncan sich daher immer weiter ab, entfernt sich auch von seiner ihn liebenden, sich jedoch von Trent einengenden Mutter. Stattdessen lernt Duncan an einem Spielautomaten zufällig Owen (Sam Rockwell), den Leiter des dortigen Wasserparks, kennen und freundet sich mit dem ständig regelbrechenden und sprücheklopfenden Chef an. Er nimmt einen Job im Wasserpark an, lernt die neben ihm wohnende Susanna (AnnaSophia Robb) kennen... und lernt endlich, wie er sein eigenes Leben führen, Mauern überwinden und seine eigene Identität finden kann, die sein neuer Ziehvater ihm nicht zugestehen will.

Man merkt den Regisseuren Nat Faxon und Jim Rash hier innerhalb von 102 Minuten an, dass sie ganz genau wissen, wie sie ihre Geschichte an mehreren Fronten erzählen wollen - dass sie sich dabei von eigenen Erlebnissen und Erfahrungen von ihren Jugendsommern inspirieren ließen, sieht man sonnenklar. In erster Linie ist "Ganz weit hinten" ein Coming-of-Age-Film und erzählt die Geschichte des jugendlichen Duncan, der innerhalb der in mehreren Wochen spielenden Handlung lernen muss, über sich selbst hinauszuwachsen, aus dem Schatten seiner kaputten Familie zu treten, sich selbst zu akzeptieren und seinen Platz in der Welt zu finden. Dabei ist in erster Linie bemerkenswert, wie unaufgeregt der Film diesen Plot erzählt. Er erfindet das Rad keineswegs neu, nutzt bekannte Versatzstücke aus ähnlich gearteten Filmen, findet für all diese aber zumeist einen erfrischenden und glaubwürdigen Platz. 
"Ganz weit hinten" ist ein stiller Film - nur selten werden Worte lauter ausgesprochen oder wirkliche Taten vollbracht. Er kümmert sich um seine Figuren, die bis in die kleinsten Nebenparts aus den Zäunen der Genre-Klischees ausbrechen, ohne dabei aber allzu besonders oder beachtenswert zu sein. Nein, die Charaktere wirken, selbst wenn sie auch mal als Gag-Lieferanten genutzt werden, ungemein menschlich. Über 100 Minuten fühlte ich mich, als wäre ich selbst Teil eines Sommerurlaubs. Ich glaubte, selbst auf der Wasserrutsche zu düsen, ein Teil des Wasserparks zu sein, Duncan und Susanna bei einem abendlichen Strandspaziergang zu begleiten. "Ganz weit hinten" schafft es mit spielerischer Leichtigkeit, den Zuschauer in seinen gar nicht mal so aufregenden, aber enorm anrührenden und lehrreichen Plot hineinzuziehen. Er schwingt nicht die große Moralkeule, verteilt seine Figuren nicht in Schwarz und Weiß, gibt jedem seine Manirismen und Emotionen mit auf den Weg. Diese werden nicht immer unbedingt laut angesprochen, trotzdem erfahren wir in wenigen Sekunden vieles über den Werdegang der einzelnen Nebenfiguren, können sogleich mit ihnen fühlen. 
Natürlich ist das der Verdienst einer Besetzung, die sich das Prädikat "perfekt" über alle Maße verdient hat. Es ist kaum möglich, hier jemanden herausstechend zu erwähnen, da sie als Ensemble miteinander so großartig funktionieren, dass hier nur einer fehlen müsste, um das ganze Gerüst einzureißen. Trotzdem muss man zumindest dem brillanten Sam Rockwell ein Extralob aussprechen, der hier nicht nur einige der witzigsten Dialogzeilen der Dekade zum Besten geben darf, sondern auch auf emotionaler Komponente eine Filmfigur zum Leben erweckt, wie wir sie nur ganz selten sehen - Rockwell beweist hiermit zum wiederholten Male, dass er nicht nur einer der besten, sondern auch einer der unterschätztesten Schauspieler aller Zeiten ist. 
Am Ende sind es die verschiedenen Puzzlestücke, die hier so charmant und bewegend ineinandergreifen und "Ganz weit hinten" somit zu einem der besten Filme machen, die ich seit Jahren gesehen habe. Er ist unbeschreiblich witzig, ehrlich, weise, fantastisch gespielt, bewegend, niemals kitschig, mit lockerer Hand inszeniert, lebensecht, romantisch, klug... ich könnte noch etliche Adjektive anbringen und doch könnte kein weiteres geschriebenes Wort beschreiben, was ich bei der Sichtung dieses Films empfunden habe. Er traf mich tief ins Herz, ließ mich laut lachen, Tränen vergießen, nachdenken, Freude empfinden. Ein Film, der uns durch eine Achterbahnfahrt der Gefühle schickt, obwohl er dies gar nicht plant - er ist viel zu leichtfüßig, um den Zuschauer dahingehend zu manipulieren. Und dass er genau dies nicht tut und sein Ziel dennoch bereits nach fünf Minuten erreicht und anschließend anderthalb Stunden ebenso perfekt weiterläuft, zeichnet ihn als ein Meisterwek seines Genres aus.

Fazit: Ein ungemein charmanter, teilweise entwaffnend witziger, sehr kluger und bewegender Film, unaufgeregt und leise. Mit spannenden Konflikten, einer schlichtweg meisterhaften Besetzung und einer menschlichen Atmosphäre, als wären wir mittendrin, entsteht ein hervorragend geschriebenes Werk, welches nichts Neues erzählt und es dennoch schafft, etwas ganz Besonderes zu sein. Brillant!

Note: 1




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