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Ich seh Ich seh

Die zehnjährigen Zwillinge Lukas (Lukas Schwarz) und Elias (Elias Schwarz) leben gemeinsam mit ihrer Mutter (Susanne Wuest), einer bekannten österreichischen Moderatorin, in einem geräumigen Haus in der freien Natur. Die Mutter hat soeben eine komplizierte Gesichtsoperation hinter sich und kehrt daher bandagiert und müde zu ihren Kindern zurück. Nach dem ersten Schrecken aufgrund des leicht veränderten Aussehens ihrer Mutter geben sich Lukas und Elias alsbald wieder ihrer Freizeit hin. Da sich die Mutter jedoch auch charakterlich verändert hat, wesentlich strenger agiert und sogar einzelne Details aus dem Leben ihrer Kinder vergessen zu haben scheint, glauben die Zwillinge bald, dass die Frau in ihrem Haus nicht ihre wahre Mutter ist... und dass sie ihnen womöglich Leid antun will.

Dieser österreichische Horrorfilm wurde sogar als Vorschlag für den besten fremdsprachigen Film für die Oscars im Jahr 2015 eingereicht. Da das Horrorgenre von der Academy meist eher benachteiligt wird, war klar, dass die Chancen schlecht standen und dementsprechend schaffte es "Ich seh seh" dann auch nicht in die Vorauswahl. Dennoch ist den Regisseur*innen Veronika Franz und Severin Fiala ein eindrückliches Werk gelungen, welches noch länger nachwirkt. Von Anfang an ist die Stimmung des Films gedrückt - die wunderschön eingerichtete (und gefilmte!) Appartement-Wohnung steht im direkten Kontrast zu der einsamen Weite der Natur, wo sie so allein steht. Trotz der lichtdurchfluteten Fenster wirkt das Haus uneinladend, die Kinder finden sogar unheimliche Ecken in dem eigentlich schönen Heim. Ohne zu viel Druck, aber mit viel Gespür für kleine Details binden Franz und Fiala schon früh diverse Gruselfaktoren ein, die hellhörig und skeptisch machen. Für weiteren Schrecken sorgen kurze Alptraum-Sequenzen, die und schnell das Fürchten lehren.
Wesentlich brutaler und angsteinflößender als diese Bilder ist jedoch der große "Konflikt", den die Macher innerhalb des Plots aufmachen. Als wäre die Grundsituation nicht schon spannend genug, drehen sie die große Vertrauensfrage unter den drei handelnden Figuren immer weiter. Der Zuschauer muss sich alsbald eigene Fragen stellen, Informationen hinterfragen und sogar Stellung beziehen, da sich der moralische Kompass der Charaktere in mehrere Richtungen dreht. Kurz vor dem Ende wissen wir wirklich nicht mehr, für wen unser Herz hier noch schlagen soll, ob wir jedem eigentlich trauen oder einfach allen misstrauen wollen. Beinahe werden wir zu Verbündeten von Figuren, die mit fortschreitender Laufzeit fieser, unnachgiebiger und letztendlich teuflischer werden und all das zu einem bestimmten Preis. Mit einer grausamen Bildsprache, die uns mehrfach zusammenzucken lässt und die weit über das hinausgeht, was ich mir zuvor von diesem Film erwartet habe, konfrontiert uns "Ich seh ich seh" nicht nur mit Grundängsten, sondern auch mit moralischen Dilemmata.
Noch erschreckender wird der Film durch die wahnsinnig natürlichen Performances der beiden Kinderdarsteller - dass dafür natürlich nicht nur echte Zwillinge gecastet wurden, sondern diese auch den gleichen Vornamen wie ihre echte Person tragen, dürfte enorm zur Glaubwürdigkeit der beiden Kinder beigetragen haben. Es bleibt jedoch anzumerken, dass mit dem weiteren Anziehen der Daumenschrauben und dem veränderten Blickwinkel auch einige Grenzen überschritten werden, die für Zartbesaitete Zuschauer sicherlich zu viel des Guten sein werden. Und so gern ich es auch mag, wenn sich ein solch kleiner Genre-Film so richtig etwas traut (und es ist nicht zu erwarten, dass das bereits angekündigte US-Remake auch nur ansatzweise in diese Kerbe schlagen wird), es ist letztendlich vielleicht doch etwas "too much". Obwohl die grausamen Szenen der physischen und psychischen Folter ungemein kraftvoll inszeniert sind und durch den Verzicht auf billige Jumpscares noch mehr an Intensität gewinnen, können sie sich in ihrer Länge und dem starken Aufeinanderfolgen nicht immer dem reinen Selbstzweck entziehen. Zudem bleiben gerade aufgrund dieser drastischen Momente einige Fragezeichen, die durch eine solche Überzeichnung entstehen und den Film wesentlich lauter und "krasser" zum Ende führen als es nötig gewesen wäre.

Fazit: "Ich seh ich seh" beginnt in ebenso malerischer wie unangenehmer Ruhe und zieht die Daumenschrauben bis zum schockierenden Finale immer weiter an. Dabei kann er sich nicht immer dem reinen, drastischen Selbstzweck entziehen, überzeugt aber durch natürlichen, menschlichen Grusel und eine fantastische Kameraarbeit.

Note: 3+



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