Cassie Thomas (Carey Mulligan) hätte eine vielversprechende Ärztin werden können - heute ist sie fast dreißig Jahre alt, lebt noch immer bei ihren Eltern Stanley (Clancy Brown) und Susan (Jennifer Coolidge) und arbeitet für wenig Geld in einer Kaffee-Bar. Ihr damaliges Medizinstudium brach sie aufgrund eines verheerenden Vorfalls an der Uni ab und verbringt ihre Freizeit nun immer häufiger in Clubs. Dort täuscht sie eine Betrunkenheit jedoch nur vor, um übergriffige Männer aus der Fassade zu locken und diese anschließend mit ihrem Verhalten zu konfrontieren. Ihr Lebensstil verändert sich jedoch, als sie ihren ehemaligen Kommilitonen und heutigen Kinderarzt Ryan Cooper (Bo Burnham) wiedertrifft und ein Geheimnis aus Unizeiten sie mit voller Wucht wieder einholt...
Cassandra Thomas ist sicherlich eine der faszinierendsten Filmfiguren, die wir in den letzten Jahren begleiten durften - sicherlich auch, weil sie weder als Sympathieträgerin noch als Heldin ihrer Geschichte wirklich funktioniert. Obwohl wir ihre Gedanken, Gefühle und Absichten durchweg verstehen und absolut nachvollziehen, ist das Drehbuch mutig genug, auch ihr Fehler und Schwächen einzugestehen, die die Zuschauer*innen anschließend selbst reflektieren müssen. Sollen wir in ihr nun eine Soziopathin sehen, die ihr ganzes Leben und ihre Gefühle für einen Rachetrip sondergleichen opfert? Oder (und beides schließt sich nicht aus) eine starke Frau, die für Recht und Ordnung in einer vergifteten Männerdomäne eintritt? Die Szenen, in denen sich Cassandra an übergriffigen, uneinsichtigen und ekelhaften Männern rächt, tun mehr als einmal richtig weh - doch sie treffen genau den richtigen Punkt, um das Publikum hadern zu lassen. Wir haben Verständnis für Cassandra, drücken ihr sogar die Daumen und machen uns somit zu Mittätern auf einem Trip, der immer wieder lobenswert und schließlich gar beängstigend ausfällt. Eine brillante Gratwanderung, in der vor allem die Szenen überzeugen, in denen sie plötzlich doch ein Privatleben findet - und dabei einen Kampf kämpft zwischen ihrer Überzeugung für andere und dem, was sie wirklich will.
Es ist schon ein wahnsinnig schwerer Stoff, den wir heute aber dringend brauchen. Regisseurin Emerald Fennell findet in ihrem Langfilm-Regiedebüt genau den richtigen Ton, um das Publikum zu schocken, zu packen und aufzurütteln - es ist wie ein gnadenloser Weckruf zur richtigen Zeit, mit dem richtigen Tonfall, den man schlichtweg nicht überhören darf. Mit einer begnadet guten Songauswahl, einer hervorragenden Kamera und nicht zuletzt einem beinahe wahnwitzig guten Ensemble ausgestattet erzählt "Promising Young Woman" eine ungemein wichtige, aktuelle und elektrisierende Geschichte, die sicherlich niemanden kaltlassen wird - ganz gleich, wie man nun zu dem Film, zur Protagonistin und zur Inszenierung steht. Dabei ist die Performance von "Shame"-Star Carey Mulligan nicht hoch genug zu loben - angsteinflößend, energetisch, schlichtweg magisch beherrscht sie diesen Film. Jede Geste sitzt, jede Zeile geht runter wie Öl. Dabei überzeichnet Mulligan aber nicht, sondern agiert gerade in den kleineren, privateren Momenten ungemein menschlich und nah. Um sie herum hat sich zudem ein starkes Ensemble aus Nebendarsteller*innen versammelt, die in ihren zumeist nur sehr kleinen Rollen nicht nur Mulligan hervorragend zuspielen, sondern auch eigene Akzente setzen: Über Laverne Cox, "American Pie"-Star Jennifer Coolidge oder dem erschütterndem Auftritt von Christopher Mintz-Plasse funktioniert hier wahrlich jeder Part ganz ausgezeichnet.
Leider verlässt der Film diese Route innerhalb der letzten halben Stunde und tappt schließlich doch noch in die Falle der Überzeichnung. Obwohl uns "Promising Young Woman" bis zum allerletzten Tusch mit zahlreichen niederschmetternden Wendungen und Überraschungen absolut in Atem hält, wobei jeder neue Faustschlag direkt in die Magengrube zimmert, verliert er auf diesen letzten Metern in seiner Überinszenierung doch noch seine zuvor sorgfältig aufgebaute Glaubwürdigkeit. Die Wandlung der Protagonistin wirkt zwar nachvollziehbar, doch entwickelt sich der Film in dieser Form auch schließlich in einen wendungsreichen Über-Thriller, verliert die einzelnen Figuren und ihre Ängste und Wünsche ein wenig aus den Augen. Das mag in dieser Form zwar etwas leichter goutierbar sein, verwirrt aber auch ein wenig, da man zuvor einem perfekt durchgetakteten Charakterdrama zusehen konnte, welches sich dann schon ein wenig maßlos in die Höhe schraubt. Das ist aber Jammern auf hohem Niveau - auch das Finale ist weiterhin grandios inszeniert und dürfte mehr als einmal für ein flaues Gefühl in der Magengrube sorgen. Dementsprechend ist "Promising Young Woman" mit Sicherheit einer der besten Filme des vergangenen Kinojahres und eines der wichtigsten filmischen Werke für unsere derzeitige Gesellschaft, welches auf keinen Fall verpasst werden sollte.
Fazit: Bis auf die letzte halbe Stunde, die doch etwas überzeichnet daherkommt, dafür aber mit allerlei brutalen Wendungen aufwartet, ist "Promising Young Woman" ein perfekt inszeniertes Drama, wobei jeder Ton in jeder Szene sitzt. Carey Mulligans Performance drückt einen in den Sitz und lässt uns auch nach dem Rollen des Abspanns nicht mehr los.
Note: 2
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