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Ein großartiges filmisches Experiment: Filmkritik zu "Boyhood"

Im Jahr 2002 lebt der sechsjährige Mason Evans (Ellar Coltrane) gemeinsam mit seiner Schwester Samantha (Lorelei Linklater) und seiner Mutter Olivia (Patricia Arquette) in Texas. Nun führt sie ihr Weg nach Houston, da Olivia dort ein Job erwarten würde, durch welchen sie besser für ihre Kinder sorgen würde - aufgrund der Entfernung könnten die Kinder ihren Vater Mason Sr. (Ethan Hawke), der von Olivia getrennt lebt, jedoch deutlich weniger sehen. Über die Jahre wachsen Mason und Samantha erst zu Teenagern und schließlich zu jungen Erwachsenen heran und müssen sich mit den Problemen der Jugend herumschlagen: Eltern, die erste Liebe, die ersten Partys, Jobs und schließlich der Auszug in das eigene Leben, mit eigenen Verantwortungen...

Was für eine großartige Idee für eine Produktion: Richard Linklater entschied sich für seinen im Jahr 2002 begonnenen "Boyhood" dafür, das Heranwachsen zweier Kinder tatsächlich in echter Produktionszeit aufzuzeigen - zwölf Jahre benötigte die Produktion, wobei mit dem gleichbleibenden Cast stets für einige Tage pro Jahr gedreht wurde. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, denn noch nie sind wir einem Cast wohl über zwölf Jahre innerhalb eines Filmes gefolgt und konnten ihnen beim Wachsen, Altern und auch Reifen zusehen. Für die Produktion war das ein immenser Aufwand, doch für das Publikum hat sich dies mehr als ausgezahlt - über 165 Minuten sehen wir den Zusammenschnitt einer ganzen Jugend und werden mitgenommen auf eine Berg- und Talfahrt durch all die Probleme, die wir so oder so ähnlich womöglich auch schon erlebt haben. Regisseur Linklater hat damit erhebliche Wagnisse auf sich genommen und ist mehr Risiken eingegangen, als vielleicht nötig gewesen wären. So konnte er sich natürlich nicht darauf verlassen, dass die jungen Schauspieler*innen im späteren Alter wirklich immer noch überzeugen würden (aber das tun sie auf ganzer Linie). Zudem passte er gar das Drehbuch jährlich an die persönlichen Erfahrungen seines Casts an, um deren ganz eigene Themen miteinzubringen, wobei die Geschichte aber dennoch vollkommen fiktiv bleibt.
Und dann ist Linklater auch noch so mutig, sich nicht mit den üblichen Dramaelementen, die bis zur Schmerz- oder Kitschgrenze durchexerziert werden, aufzuhalten... sondern begnügt sich lieber damit, fast durchgehend alltägliche Situationen des ganz normalen Lebens abzufilmen. Das kann durchaus langweilig sein, wenn man ehrlich ist und ab und an wünscht man sich tatsächlich, dass Linklater doch ein paar der wichtigen Eckpunkte im Leben des Protagonisten (wie dessen ersten Kuss oder dessen Schulabschlussfeier) nicht ausgespart und uns so ein weiteres Frühstücksgespräch erspart hätte. Letztendlich macht dies aber nichts, da insbesondere diese ganz alltäglichen Momente einen wahnsinnigen Sog versprühen, der uns alle noch einmal in Erinnerungen schwelgen lässt. Zudem kann er sich dadurch viel Zeit nehmen, um seine immer älter werdenden Figuren zu formen, sie von sich erzählen zu lassen. Familiäre und persönliche Dramen gibt es dennoch und hin und wieder werden sie auch deutlicher auserzählt - besonders in der ersten Hälfte des Films kommt es dabei zu einigen sehr elektrisierenden Szenen. Aber sie stehen nicht im Mittelpunkt, sondern sind nur Teil einer langen Reise, die uns durch eine ganze Jugend führt.
Das ist schon ziemlich einzigartig und allein aufgrund dieser gelungenen Produktion ein wahnsinnig befriedigendes und berührendes Filmerlebnis. Durch clevere Kniffe wie die im Radio gespielten Songs, Gespräche über die derzeitige politische Situation oder die Benutzung technischer Geräte (erst ein Gameboy, später ein Klapphandy, schließlich ein Smartphone) kann Linklater sogar auf Einblendungen von Jahreszahlen verzichten. Dank der optischen Veränderung der Darsteller*innen und auch deren eigenen, persönlichen Zügen wissen wir stets ungefähr, in welchem Jahr wir uns befinden. Dabei verändert sich natürlich auch der Tonfall, wenn Mason von der Kindheit in die Pubertät und aus dieser auch wieder hinauswächst - die Probleme verändern sich, der Junge verändert sich, die Menschen um ihn herum verändern sich. Der damals noch völlig unbekannte Ellar Coltrane ist der enormen Aufgabe gewachsen und wirkt dabei durchgehend glaubwürdig, als würden wir durch den Bildschirm direkt in sein privates Leben hineinblicken. Die mit dem Oscar ausgezeichnete Performance von "Ed Wood"-Star Patricia Arquette erschüttert und bewegt dabei noch auf eine ganz andere Art, wenn sie die tragischen, familiären Hintergründe einer Familie überträgt. Daneben reicht es Ethan Hawke noch zu einer aufgeschlossenen Darstellung eines Familienvaters, der trotz all seiner Fehler eine wunderbar ambivlante Figur bleibt, die ihren eigenen Weg geht und trotzdem nahbar bleibt.

Fazit: Ein wundervolles Experiment, welches sich qualitativ voll ausgezahlt hat - "Boyhood" nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch die Jugend, die noch nie so treffsicher inszeniert wurde wie hier. Dank einer tollen Regie und hervorragend gecasteten Schauspieler*innen bleibt die Atmosphäre sogartig, auch wenn aufgrund der eher stimmungsvollen als wirklich packenden Erzählung einige Längen nicht ausbleiben.

Note: 2



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