Es war sicherlich einer der Netflix-Originalfilme, die für den meisten Brennstoff sorgten, da sich der Streamingdienst hier an ein doch sehr gefährliches Thema heranwagte: "To the Bone" sollte sich auf sowohl gefühlvolle als auch elektrisierend harsche Weise der Thematik Magersucht aneignen. Das ist nicht gerade das sicherste Pferd, auf das man setzen kann, denn ein solch gewichtiges Thema, mit dem sicherlich die meisten Menschen ob über sich selbst oder über Bekannte und Freunde schon einmal in Berührung gekommen sind, muss man schon wirklich passend anfassen. Da passt es, dass sowohl die Hauptdarstellerin als auch die Regisseurin private Erfahrungen mit der Krankheit machten... es hat aber nicht zu einem vollends zufriedenstellenden Film gereicht.
TO THE BONE
Die zwanzigjährige Ellen (Lily Collins) ist magersüchtig und hat bereits vier stationäre Aufenthalte hinter sich, allesamt erfolglos. Ihre Familie liegt ihr besorgt im Nacken, doch Ellen hat das Interesse verloren... auch im Wissen, dass ihr womöglich der baldige Tod vorbeisteht. Die scheinbar letzte Hoffnung ist ein Platz in der stationären Behandlung des angesehenen Therapeuten Dr. William Beckham (Keanu Reeves)... der jedoch nur mit Ellen arbeiten möchte, wenn sie dies selbst will. Ellen entscheidet sich, die Chance zu ergreifen und sich mehreren Wochen mit sechs Mitpatienten, neuen Herausforderungen und Bekanntschaften zu stellen... und somit vielleicht ihr Leben zu retten.
An dieser Stelle eine kurze Warnung: Ja, "To the Bone" geht sein kritisches Thema durchaus drastisch an, weswegen eine kurze, eingeblendete Warnung vor Filmbeginn und eine überraschende FSK ab 16 Jahren durchaus gerechtfertigt sind. Sensible Gemüter könnten sich angesichts manch eines schockierenden Bildes, besonders jedoch aufgrund der aufgedeckten, psychischen Gemüter seiner Protagonistin erschüttert fühlen... und genau das will der Film auch bewirken. Leider tut er dies nicht durchgehend und scheint in die falschen Richtungen zu stieren, zu viel zu wollen und dabei zu zerfasern.
Der Beginn, in welchem Ellens Persönlichkeit ansatzweise entblättert und ihre durchaus kritische und schon recht spezielle Familiensituation erzählt wird, macht noch Lust auf mehr: Dem Film gelingt es, die Essstörung angesichts der Umstände nicht nur spürbar, sondern auch nachvollziehbar zu machen und zu Ellen selbst fühlen wir uns bereits nach kurzer Zeit hingezogen. Leider macht "To the Bone" nicht in dieser durchaus starken Qualität weiter und lässt genau zu dem Zeitpunkt nach, wo er eigentlich richtig Gas geben sollte: Sobald sich Ellen einschreiben lässt und Teil des therapeutischen Aufenthalts wird, beginnt das Gerüst sehr rasch zu wackeln. Auch wenn man die grundsätzliche Atmosphäre eines stationären Zusammenlebens aufrechterhalten kann, entwickelt der Alltag keinen echten Realismus: Die Stationsregeln sind schnell erklärt, ergeben aber nicht immer Sinn, die ziemlich bunt zusammengewürfelte Truppe wird viel zu spärlich beleuchtet und "Der Zoowärter"-Star Leslie Bibb reißt das Durchschnittsalter der Patienten so seltsam nach oben, dass sie zu keinem Zeitpunkt in diese ansonsten sehr jugendliche Gruppe hineinpasst.
Über die restlichen Figuren erfährt man im Grunde rein gar nichts, was aber vielleicht gar nicht so schlecht war, denn der eine Versuch, einem Mitpatienten Ellens weitere Konturen zu verleihen, ist gründlich schiefgegangen: Luke, der einzige Junge auf der Station, strotzt nicht nur vor unbeholfenen Klischees, sondern wird auch auf ziemlich einfältige und zuvor kaum aufgebaute, letztendlich skurille Art und Weise genutzt, um Ellen zu formen. Auch ist Alex Sharp dem hohen Schauspiel-Niveau des Themas zu keiner Sekunde gewachsen, nervt in seiner überzogenen und niemals glaubwürdigen Performance schnell. Beinahe ebenso seltsam agiert "Matrix"-Star Keanu Reeves, der hier als schlichtweg allwissender Doktor so dermaßen perfekt herüberkommt und einfach bloß mit lockeren Lebensweisheiten umherwirft, dass man ihm die Therapienummer zu keiner Sekunde abkauft... vielleicht auch, weil es den Anschein macht, als solle ein simpler Ausflug zu einem Wasserfall alle Probleme lösen.
Es bleibt letztendlich also fast alles an Lily Collins hängen und die macht ihre Sache schlichtweg fabelhaft. Mit einer ungemein elektrisierenden Darstellung, schockierend heruntergehungert, sämtliche kleinen Mainirismen abdeckend, ohne zu überzeichnen, ist sie die Idealbesetzung, die dieses Thema verdient. Sie gibt der Krankheit ein streckenweise beängstigendes Gesicht und spielt sich auf Hochtouren... und das so nuanciert wie möglich. Ellen ist dann auch die Figur, die das restliche Flickwerk zusammenhält, immer wieder erdet und in teils brillanten Einzelszenen auf den Punkt bringt, auf dem der Film die ganze Zeit hätte sitzen sollen. So zeigt der Daumen am Ende doch wieder hinauf und das liegt fast allein an Collins... es passiert selten, dass eine einzige Darstellerin so vieles wettmacht.
Fazit: "To the Bone" bleibt bei dem schwierigen Thema etwas zu oberflächlich und versagt gerade bei in der Therapie-Handlung - schwammige Figuren, maue Dialoge, seltsame Beziehungskisten. Lily Collins hält dabei ein viel zu simples Konstrukt aber auf solch fabelhafte Art und Weise zusammen, mit einer schlichtweg entblätternden Darstellung, dass der Film alleine durch sie einen gewissen Sog entfaltet.
Note: 3
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