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Kindeswohl

Mit Sekten bin ich in meinem Leben glücklicherweise nie ernsthaft in Kontakt geraten. Im ungefähren Alter von zwölf Jahren wurde ich Zeuge, wie ein Mann im Bus mehrere Kinder ansprach und ihnen dabei mehrere Wachtürme anbat, sie ihnen bald regelrecht aufzwang - als er sich mir zuwandte, entgegnete ich ein starkes "Nein" und ließ ihn nicht zu Wort kommen. Zum Glück war ich in diesem Alter bereits über die Gefahr dieser religiösen Spinner aufgeklärt worden, doch nicht allen erging es so wie mir. Wie zum Beispiel lebt ein Kind, welches innerhalb dieser Bande aufgewachsen ist? "Kindeswohl" erzählt eine interessante Geschichte aus diesen Geflechten, über einen jungen Mann, der sich zwischen seinem eigenen Tod und dem unerschütterlichen Glauben entscheiden muss.

KINDESWOHL


Die Ehe zwischen der hochangesehenen, englischen Richterin Fiona Maye (Emma Thompson) und ihrem Gatten, dem Highschool-Lehrer Jack (Stanley Tucci) droht, in die Brüche zu gehen: Jack ist unzufrieden über ihre gegenseitige Nähe, die kaum noch vorhanden ist. In genau dieser Zeit wird Maye mit einem schwierigen Fall konfrontiert: Ein siebzehnjähriger Junge namens Adam (Fionn Whitehead) verweigert trotz seiner Leukämieerkrankung die lebensnotwendige Bluttransfusion, da er Zeuge Jehovas ist und dieser medizinische Eingriff streng gegen seinen Glauben verstößt. Seine Eltern unterstützen diese Haltung, verbieten den behandelnden Ärzten jegliche Rettung ihres Sohnes. Nun soll Maye entscheiden, ob man sich über den Glauben der Familie hinwegsetzen darf, um das Leben des jungen Mannes zu retten... sie trifft sie und sieht sich anschließend mit den Konsequenzen ihres Handels konfrontiert.

Der im August 2018 in den deutschen Kinos angelaufene Film von Regisseur Richard Eyre beginnt in seinen ersten fünfzehn Minuten mit einer Zeichnung der Ehe von Fiona und Jack. Diese geht momentan den Bach runter, da Richterin Maye wesentlich mehr mit ihrem Job verheiratet zu schein scheint als mit ihrem Ehemann, was Jack zu einer Entscheidung führt. In diesen ersten Szenen können nicht nur Emma Thompson und Stanley Tucci gleich vollkommen glänzen (die Ehe der beiden nimmt man den Schauspielern, die angenehm nuanciert auftreten, ohne mit der Wimper zu zucken ab), auch der im Raum stehende Konflikt entwickelt bereits Dampf. 
Gerne hätte ich genau diesen Plot wesentlich weiterverfolgt, entwickelt er in den leisen Dialogen doch eine erfrischende Dynamik, die einen regelrecht in den Film hineinzieht. Tatsächlich fällt gerade Tuccis Rolle hier aber überraschend klein aus, weswegen auch der Ehe-Konflikt im weiteren Verlauf immer deutlicher in den Hintergrund gerückt und Platz für das wahre Drama machen muss: Die Entscheidung der Richterin bezügliches des jungen Adam und wie mit dieser Entscheidung, die zur Mitte der Handlung getroffen wird, von allen Beteiligten umgegangen wird. In den Szenen vor Gericht tänzelt Regisseur Eyre noch sehr gekonnt zwischen dem persönlichen Drama seiner weiblichen Hauptfigur und den spannenden Konflikten an der Richterbank, später jedoch verändert sich der Ton... und "Kindeswohl" läuft plötzlich in eine Richtung, mit der ich mich nicht mehr richtig anfreunden konnte. 
Die zwischenmenschlichen Beziehungen und Fragen, die später Einzug halten, sind zwar hochdramatisch, in ihrer Skurillität aber auch recht verschlossen und machen einen emotionalen Zugang des Zuschauers zu einer schweren Prüfung. Leidtragend ist dabei auch "Dunkirk"-Star Fionn Whitehead, der in seiner aufdringlichen Performance etwas zu weinerlich und gedrückt auftritt und dabei gegen seine erfahrenere Kollegin Thompson schauspielerisch klar den Kürzeren ziehen muss. Thompson selbst agiert hervorragend und kann sogar einige eher mäßige Wendungen des Drehbuchs locker überflügeln. In den menschlichen Konflikten wird es oftmals etwas zu kitschig, das große Drama wird plötzlich sehr großspurig behandelt, mit der Glaubwürdigkeit ist es daher irgendwann recht weit her. 
Mutig sind die angesprochenen Themen sicherlich und geben dem Zuschauer auch die Gelegenheit, sich zumindest ein wenig mit den Gefahren einer Sekte wie den Zeugen Jehovas auseinanderzusetzen. So richtig in die Tiefe geht man aber auch dabei nicht, schneidet einige der plötzlich Fahrt aufnehmenden Konflikte recht bald ab und endet an einem Punkt, an dem die Handlung noch gar nicht richtig auserzählt scheint. Nicht alle roten Fäden und Hinweise laufen rund zu ihrem Ziel und der Weg zu diesem ist gerade in der zweiten Hälfte durch eine schier aggressive Tour auch ein nicht immer kurzweiliger. Dafür entschädigt schließlich einzig und allein "Saving Mr. Banks"-Star Thompson, der man dank ihrer entblätternden und detaillierten Performance auch in den schwächeren Momenten noch sehr gerne zusieht.

Fazit: In der zweiten Hälfte läuft "Kindeswohl" plötzlich in eine schwierige Richtung, wird etwas zu überladen und übernimmt sich mit den surrealen, skurill angelegten Konflikten. Zuvor hat man ein packendes Drama mit leisen Momenten und einer grandiosen Emma Thompson gesehen... schade, dass man diesen Weg nicht halten wollte.

Note: 3-




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