Alfred Kinsey (Liam Neeson) wuchs in einem strengen Elternhaus auf - sein Vater (John Lithgow) ist ein religiöser Prediger, der die Interessen und Neigungen seines Sohnes nicht nur nicht anerkennen wollte, sondern sie glatt verteufelte. Zu Beginn seiner Karriere macht sich Kinsey als Insektenforscher einen Namen, kann mit seinen Studien über eine gewisse Wespenart aber nur die Hartgesottenen für das Thema begeistern. Über das Kennenlernen seiner späteren Frau Clara McMillen (Laura Linney) kommt er jedoch zu dem Zweig, welcher ihn in Amerika ebenso berühmt wie berüchtigt machen sollte: Die Sexualforschung. Mit diesem Thema eckt Kinsey in den 50ern an, obwohl er dabei eigentlich nur das Normalste der Welt offenlegt - der Geschlechtsverkehr zwischen den Menschen. Der Erfolg seiner Studien ist enorm, doch gibt es dabei auch deutlich verklemmtere Gesellen, die dem Wissenschaftler Steine in den Weg legen wollen...
Alfred Kinsey hat viel dazu beigetragen, die Prüderie in Bezug auf die Sexualforschung nach und nach aufzugeben. Wie es uns in dieser grandiosen Biografie dargelegt wird, besteht für solch eine Art der Prüderie aber ohnehin kein Grund, denn dass Menschen miteinander Geschlechtsverkehr haben, ist allgemein bekannt und sicherlich auch keine aufregende Nachricht, die irgendwen überrascht. Nur darüber zu sprechen, zu informieren und all dies auch als etwas vollkommen Normales und Menschliches zu behandeln, damit haben selbst heute, in unserer aufgeklärten Gesellschaft, viele ein Problem. Man kann sich also ungefähr vorstellen, wie dieser Alfred Kinsey in den 50ern mit den Informationen aneckte, die auch heute noch viele Zuhörer verschrecken oder erröten lassen würde. "Mr. Holmes"-Regisseur Bill Condon nutzt dieses Thema für einige Szenen mit herrlich unaufdringlichem Humor, wenn Kinsey seine Probanden und Zuhörer gleich von der ersten Minute mit deutlichem Bildmaterial konfrontiert. Dabei füllt sich sein Hörsaal über die nächsten Wochen immer weiter - ein deutliches Indiz dafür, dass die Menschen auf diese Art der Aufklärung gewartet haben.
Mit hohem Tempo, wunderbaren Dialogen und einem starken Gefühl fürs Timing läuft Condon nicht einfach nur die wichtigsten Stationen von Kinseys Karriere ab, sondern setzt dem Publikum auch deren eigene Verklemmtheit vor. Ohne schlüpfrig zu werden oder gar unter die Gürtellinie zu gehen thematisiert der Film unsere sexuellen Orientierungen und sorgte dabei im Amerika der 50er für allerlei Erstaunen. Dass Sex nicht nur innerhalb einer Ehe stattfand, sondern auch davor, außerhalb oder danach und durchaus auch zwischen Menschen gleichen Geschlechts ausgeübt wurde (und das nicht zu knapp), war für die damalige Bevölkerung eine Überraschung. Diese kleinen Comedy-Momente werden niemals zu billigen Lachern ausstaffiert, sondern sind von einem flotten Charme getragen. Dabei gelingt auch der Übergang zu den Drama-Momenten, die den kleinen Komödieneinlagen niemals im Wege stehen. Die Verbindung aus süffisanter Aufklärung und Familiendramen geht locker Hand in Hand und stellt dabei sogar provokative Fragen. In einer der besten und eindringlichsten Szenen des Films gerät der offene Professor an einen Probanden, der weit über die Experimentierfreudigkeit von Kinseys Forschungen hinausgeht. Hier stellt sich die Frage, wo die eigene Erforschung der Sexualität anfängt und wo sie enden muss. Auch hier haben Bill Condon und natürlich Kinsey selbst treffsichere Antworten, die uns nachdenklich machen und die auch mal an die Magengrube gehen.
Eine Meisterleistung ist dies indes auch von Liam Neeson, der scheinbar mühelos zwischen dem charmanten, sicheren Auftreten eines Professors, der die ganze Aufregung um das Thema kaum versteht, sowie dem ernsten, beinahe besessenen Forscherdrang wechselt. Ihm zur Seite steht die für diese Rolle oscarnominierte Laura Linney, die nicht nur still leidend und mit bemerkenswerter Ausstrahlung für viele der kleinen, emotionalen Aspekte zuständig ist, sondern auch den herrlichen Humor antreiben darf, wenn auch sie als Frau Offenheit zur Schau stellen darf. Auch die Nebenrollen sind durch die Bank weg hervorragend besetzt: Über Peter Sarsgaard und Chris O'Donnell als Mitstreiter in Kinseys Forschungsteam, zu "Bombshell"-Star John Lithgow als dessen strenger Vater und schließlich zu Oliver Platt als Rektor der Universität, an welcher der umstrittene Professor unterrichtet. Sie alle geben sich mit viel Charme die Klinke in die Hand und umkreisen dabei das von Neeson und Linney gegebene Zentrum mit eindrücklichen, aber niemals aufdringlichen Leistungen. Dementsprechend ist "Kinsey" Autoren- und Schauspielerkino auf hohem Niveau, mit viel süffisantem Witz, aber auch einem echten, lehrreichen Kern, der das Herz ebenso wie das Hirn trifft und heute beinahe ebenso aktuell ist wie damals.
Fazit: Ein intelligentes Drama über eine faszinierende Persönlichkeit der historischen Sexualforschung. Provokant, aber niemals schlüpfrig, mit viel leisem Humor und dramatischen Einschüben. Liam Neeson und Laura Linney beeindrucken in den Hauptrollen, auch dank eines grandiosen Drehbuchs mit allerlei schneidigen Dialogen.
Note: 2+
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