Hals über Kopf musste er seine Heimat verlassen: Joe Goldberg (Penn Badgley) hat es nun nach Los Angeles verschlagen, wo er unter falschem Namen ein gänzlich neues Leben anfangen will, um sich vor seiner Ex-Freundin Candace (Ambyr Childers) zu schützen. Diese ist offensichtlich auf der Jagd nach Joe und möchte ihn für seine vergangenen Taten endgültig ans Messer liefern. Eigentlich möchte Joe deswegen in seiner neuen Heimat möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen und bloß nicht erneut den Reizen einer Frau verfallen, die das Schlimmste in ihm wachrütteln könnte. Trotzdem erliegt er früh dem Charme der offenherzigen Love Quinn (Victoria Pedretti), mit welcher sich eine Beziehung anbahnt, die Joe so noch nicht kennt. Zudem mischt er sich in die Belange der fünfzehnjährigen Teenagerin Ellie (Jenna Ortega) ein, da diese droht, wider besseren Wissens in Unheil zu geraten...
Zu Beginn hatte ich noch ein wenig Sorge, was die zweite Staffel von "You" angeht, sah dies doch ein wenig nach einer recht schnöden Wiederholung des Ablaufs der ersten Season aus, nur mit weitestgehend neuen Charakteren und in einem sonnigeren Setting in Los Angeles. Schon recht früh beweisen die Macher jedoch, dass sie genug frische Ideen einbringen, um die Geschichte rund um Joe Goldberg weiterzuführen und sich dabei nicht in ermüdenden Wiederholungen zu verstricken. Hat man sich erst einmal an das neue Ensemble gewöhnt, fällt der Kontrast zur deutlich anders gearteten ersten Season immer deutlicher auf: Es gibt mehr interessante Nebenfiguren, die neue Dame in Joes Begierde unterscheidet sich erheblich von Guinevere Beck und auch Joes eigene Reise ist eine andere. Und gerade in letzterem liegt der interessante Knackpunkt: In der ersten Season war Joe Goldberg ein absoluter Bösewicht, dem wir gezwungen waren zu folgen und die Einblicke in sein Seelenunheil haben uns gefordert, verängstigt und diesem Kerl sogar nahegebracht. Der Joe der zweiten Staffel, der nun unter dem Namen Will Bettelheim lebt, plant nun aber tatsächlich ein ganz neues Leben - er möchte die Fehler seiner Vergangenheit ausradieren, er möchte lernen und ein besserer Mensch werden. In dieser Hinsicht ist "You" in seiner Charakterpsychologie plötzlich sehr nah dran an "Dexter", die ebenfalls einen mordenden Psychopathen in den Fokus stellte, diesen aber auch als einfühlsamen Mann aufzeigte, der an seiner Krankheit leidet.
Dies ist ein neuer Blick auf Joe Goldberg, der sich seiner Taten und deren Folgen mehr als bewusst ist und der nicht nur für sich, sondern auch für die Menschen in seiner Umgebung etwas Anderes, Besseres sein will. Ein Schritt weit weg vom Psycho-Thriller und hin zum fordernden Drama und das steht "You" tatsächlich ziemlich gut. Besonders im Mittelteil, wenn die zuvor noch etwas langsam etablierten Konflikte und Nebenhandlungen mit den neuen Charakteren ordentlich an Fahrt gewinnen, läuft diese Season bemerkenswert rund: Emotionale, gar herzliche Momente, leiser Humor und Hochspannung wie in den besten Thrillern geben sich dank den stark geschriebenen, diversen und cleveren Charakteren die Klinke in die Hand und noch dazu führt die Season die zuvor aufbereiteten Plots der ersten Staffel sinnig und überraschend fort. Leider verliert sich diese Welle an guten Ideen und emotionalen Zentren gegen Ende etwas - dort nimmt dann der Thriller wieder Überhand, was an und für sich für diese Serie wichtig und richtig ist, aufgrund einiger ziemlich banaler Wendungen und an den Haaren herbeigezogenen Überraschungen aber doch etwas zu viel ist. In der Mühseligkeit, den Zuschauer immer wieder zu überraschen, hat man es in den letzten Folgen doch ein wenig übertrieben, auch wenn das Zusammenspiel der einzelnen Handlungen und wie diese sich letztendlich gegenseitig antreiben, auch dort noch zeigt, wie gut die Drehbuchautoren sind.
Fans der ersten Staffel werden sich also erst einmal daran gewöhnen müssen, dass die neue Season die alten Handlungen zwar durchgehend fortsetzt, aber auch vordergründig auf viel neues Blut setzt. Diese Charaktere sind aber, da sie neben Hauptfigur Joe deutlich mehr Gravitas und Persönlichkeit erfahren, vielleicht noch ein wenig sympathischer und erinnerungswürdiger als die Nebenfiguren der ersten Staffel. Als jemand, der Guinevere Beck in der ersten Staffel wahnsinnig mochte, hatte es Love Quinn als neue weibliche Hauptfigur natürlich erst einmal schwer. Doch dem natürlichen Charme, den Victoria Pedretti dabei einbringt, konnte ich mich letztendlich nur schwer entziehen und da sie sich zudem deutlich von den Manirismen und emotionalen Wandlungen Beck's unterscheidet, fällt es nicht schwer, eine Bindung zu ihr aufzubauen. Mindestens ebenso gut sind jedoch die weiteren Charaktere geschrieben, die Joes Reise unterstreichen und die diesmal deutlicher emotional an ihn appellieren. Figuren wie Love's drogenkranker Bruder oder die freche Nachbarin wirken zu Beginn noch wie Klischees, formen sich aber in einigen bockstarken Nebenplots, die auch Joes Charakterisierung beeinflussen und ihn als Figur greifbarer machen, ihn weiterentwickeln. Das ist mutiger, als ich es im Vornherein erwartet habe, auch wenn sich die Dramaturgie gegen Ende zu arg selbst verständigt und dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren droht. Auch der finale Cliffhanger kann nicht die selbe Wirkung erzielen wie zum Beginn der ersten Season, wobei ich natürlich dennoch wahnsinnig gespannt auf die nächste Fortführung bin.
Fazit: An das hohe Niveau der ersten Staffel kann diese Fortsetzung nicht ganz anknüpfen, dafür verlaufen die finalen Folgen doch etwas zu wirr und überschlagen sich dabei zu arg. Die Charakterisierung der neuen Figuren, die Weiterentwicklung der Hauptfigur, die sichere Inszenierung und viele emotional starke Momente sorgen jedoch dafür, dass "You" besonders zur Staffelmitte einen wahnsinnig guten Sog entwickelt.
Note: 3+
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