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Das Tagebuch der Anne Frank (2016)

Es ist wohl eine der bekanntesten und bewegendsten Geschichten, die sich während der grausamen Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg zugetragen haben: Über zwei Jahre lang versteckten sich mehrere Juden in einem kleinen Hinterhaus, um der Verfolgung und der Deportierung zu entgehen. Verfilmt wurden die realen Tagebücher, die Anne Frank in diesem Hinterhaus schrieb und die später gefunden und veröffentlicht wurden, schon mehrfach und man durfte sich fragen, was eine weitere Verfilmung 2016 diesem Stoff noch abgewinnen möchte. Die Antwort: Eine Menge, sind sich die Macher doch bewusst, dass die Zuschauer die Geschichte kennen und fokussieren sich diesmal voll und ganz auf Anne, tauchen in ihre Gefühls- und Empfindungswelt ein und präsentieren eine ganz neue Seite des jungen Mädchens...

DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK


Während Adolf Hitler seinen Marsch vorantreibt, lebt die dreizehnjährige Anne Frank (Lea van Acken) mit ihrer Familie in Amsterdam und bekommt nach und nach die aufkeimende Ausgrenzung gegenüber den Juden zu spüren... auch am eigenen Leib. Als die Nazis beginnen, Juden zu deportieren, um sie in die Konzentrationslager zu bringen, fasst Annes Vater Otto (Ulrich Noethen) einen Entschluss: Sie fliehen vor der Macht der Gestapo und verstecken sich in einer kleinen Wohnung in einem Hinterhaus, mit Hilfe von vier Büroangestellten. Dort harren sie Tag um Tag, Woche um Woche und Monat um Monat aus, warten bangend auf das Kriegsende. In dieser Zeit beginnt Anne, ein Tagebuch zu führen... und schreibt ihre Empfindungen und Gefühle nieder.

Ein wenig skeptisch war ich schon: Ich ahnte, dass auch diese Verfilmung des historischen Stoffes beileibe keine Enttäuschung darstellen würde, fürchtete mich jedoch, dass man hier das typisch deutsche Drama abliefern würde: Eine bekannte Geschichte erzählen, die durchaus ihren Wert hat, aber eben auch schon bekannt genug ist und eigentlich nicht noch einmal neu verfilmt werden bräuchte. Und natürlich ändert Regisseur Hans Steinbichler die Geschichte nun nicht ab - so ziemlich jeder Zuschauer wird also wissen, wie alles ausgeht. Das nimmt dem hervorragend gefilmten und betulich langsam erzählten Werk aber niemals seine Spannung, ganz im Gegenteil. Mit dem Wissen des dramatischen Ausgangs erhält jede Szene, sei es ein Streit zwischen Anne und ihren Eltern, ihre Liebelei mit dem ebenfalls im Hinterhaus wohnenden Peter oder ein gemeinsames, fröhliches Abendessen, eine ganz neue Intensität - eine düstere Intensität wohlgemerkt, die Steinbichler niemals in überzogene, aber dennoch wirkungsvolle Bilder einspeist und mit einem angenehm zurückhaltenden Soundtrack versieht. 
All das darf man von einem Werk wie diesem aber erwarten - es ist eine schwierige Herausforderung, doch wenn der Film gelingen soll, sollte man dies schon so umsetzen. Was die Verfilmung aus dem Jahr 2016 jedoch neu macht, ist die Art, wie man sich der Figur der Anne Frank annähert. Im Grunde hatte sie sich schon in ihrem Tagebuch entblättert, wie der Film sie jedoch nicht nur als historische Figur und fröhlich-kreatives Kind, sondern auch als Mensch, die zu einer jungen Frau heranreift, zeichnet, das ist ebenso mutig wie bemerkenswert. Steinbichler hebt Anne niemals auf ein Podest, sondern lässt sie sich auch im Ton vergreifen, Fehler machen und ihren Mitmenschen, die eben so viel Leid wie sie durchmachen müssen, gegenüber Unrecht tun. Er zeigt, dass auch Anne nur ein Mensch war, die niemals perfekt sein konnte und es erst Recht nicht durfte, die kämpfen und durchhalten musste und eben in dieser Zeit auch mal übers Ziel hinausschoss, das sichere Versteck sogar durch Ungeschicktheit gefährdete. 
So kritisch, wie man hier mit Anne Frank umgeht, ohne sie zu denunzieren, sondern durchgehend menschlich zu halten, so offen wird der Film im Thema der Heranreifung zur Frau. Sex, Liebe und Erwachsenwerden werden großgeschrieben und nicht weggewischt, was "Das Tagebuch der Anne Frank" zu einem überraschend freizügigen Film macht. Verneigen muss man sich an dieser Stelle gleich vor der Hauptdarstellerin Lea van Acken: Diese bewies bereits ein Jahr später in dem deutschen Mega-Erfolg "Fack Ju Göhte 3" auch komödiantisches Talent, doch dies hier stellt ihre Meisterleistung dar. Sie geht ungemein geistreich und clever mit den Textelementen um, überzieht nicht, ist durchgehend glaubwürdig und öffnet dem Zuschauer eine Tür in ihre Seele - jeder Blick und jede Geste sitzen perfekt und wenn sie schließlich unter Tränen zum Zuschauer spricht, dürfte auch im Publikum manch ein Auge kaum trockenbleiben. 
Zurückstecken muss der Rest des Casts, der zwar durch die Bank weg starke Leistungen liefert, vom Drehbuch aber mit weniger Augenmerk beliefert wird. Gerne hätte ich noch mehr über die Nebenfiguren erfahren, die hier manchmal doch etwas zu einseitig geschrieben sind. Somit entsteht der Blickwinkel eines einzigen Menschen, quasi auch das Sinnbild eines Tagebuchs - da Steinbichler den Film aber quasi von Beginn an als Ensemble-Werk inszeniert hat, wobei jede Figur ihre eigene Geschichte mitbringt, hat er sich an den Seiten doch nicht immer tief genug umgesehen.

Fazit: Intensive Neuverfilmung des bekannten Stoffes, dem gerade bezüglich der Person Anne Frank neue, mutige und menschliche Seiten abgewonnen werden. Schauspielerisch von Lea van Acken brillant vorgetragen, mit Herz und einer tiefen Dramatik: Die Version aus dem Jahr 2016 hat durch frische Ideen durchaus seine Daseinsberechtigung.

Note: 2





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