Direkt zum Hauptbereich

Eine gänzlich andere Version: Filmkritik zu Guillermo del Toros "Pinocchio"

Im faschistischen Italien während des Ersten Weltkrieges verliert der Holzschnitzer Geppetto seinen Sohn Carlo während eines Bombeneinschlags in der örtlichen Kirche. Mit gebrochenem Herzen macht sich der alte Mann daraufhin an die Arbeit an einer Puppe aus Pinienholz, die seinen Sohn ersetzen soll. Als diese Puppe, die er zuvor Pinocchio taufte, jedoch plötzlich mit magischer Hilfe zum Leben erwacht, ist er über seinen neuen Sohn schockiert und möchte diesen so nicht akzeptieren. Geppetto vergleicht den verwirrten Pinocchio so sehr mit dem verstorbenen Carlo, dass die lebende Holzpuppe nicht mehr weiß, was er tun soll. Daraufhin bricht er zu einer eigenen Reise aus, um den Sinn seines langen Lebens zu entdecken und vielleicht auch die Gunst seines Papas zu erlangen...

Ich muss sagen, dass ich der Thematik mittlerweile ein wenig überdrüssig wurde. Es ist noch nicht lange her, da schickte sich der italienische Film "Pinocchio" an, die bekannte Geschichte neu zu erzählen. Und erst in diesem Jahr lieferte Disney die Realfilm-Variante des bekannten Cartoons nach und fächerte die ohnehin von jedermann gesehene Geschichte noch einmal nach... was vielen missfiel, mich jedoch aufgrund der schmissigen Musikeinlagen und der berauschenden Bilder ziemlich abholte. Und nur wenige Monate nach Disneys neuestem Streich folgt nun eine weitere Version der Geschichte um die zum Leben erwachte Holzpuppe - die Fassung von Fantasy-Regisseur Guillermo Del Toro wurde dabei vielleicht am sehnlichsten erwartet und sollte sich extrem von den bekannten Fassungen absetzen. Und trotzdem war ich der Geschichte mittlerweile müde und hatte eigentlich keine rechte Lust auf einen weiteren Ausflug mit der Holzpuppe und wenn sie auch noch so anders ausfiele. Del Toros Herzensprojekt, für welches er etliche Jahre kämpfen musste, hatte also von Anfang an keinen ganz einfachen Stand bei mir und hat es trotzdem geschafft, mein Herz ein wenig zu erobern.
Das liegt zum einen an der wundervollen Stop-Motion-Optik, die Del Toro hier einsetzt und die diesen Film schon stilistisch komplett von Disneys aktueller Neuverfilmung abhebt. Die Bilder sind, ebenso wie die Geschichte, deutlich düsterer und teilweise gar erschreckend - für Kinder ist dieser Film daher wohl eher nichts. Es wird tatsächlich viel gestorben und in teils drastischen Bildern werden finstere Themen wie Krieg, Faschismus, Tod, Verlust und Ausbeutung angesprochen. Das hat mit der Disney-Variante tatsächlich gar nichts mehr zu tun und auch die Reise des Titelhelden verläuft völlig anders als bisher gewohnt. Viele bekannte Figuren kommen gar nicht mehr vor, dafür werden andere deutlicher skizziert - so zum Beispiel der kleine Junge Kerzendocht, der nun der Sohn eines grausamen, faschistischen Generals ist. Es ist dabei durchaus spannend zu sehen, welche Stationen der Film neu interpretiert und welch andere Wege er dabei geht, auch wenn am Ende immer wieder die recht üblichen Lehren stehen, die diese Geschichte mit sich bringt. Diese sorgen dann auch dafür, dass sich die etwas zu gut gemeinten zwei Stunden an Laufzeit bisweilen etwas langwierig anfühlen können.
Die Wagnisse, die diese düstere Neuinterpretation angeht, verdienen jedoch fast uneingeschränktes Lob. Dies beginnt bei den neu ausgerichteten Charakteren, die teilweise völlig anders handeln oder sehr intensiven Background erhalten. Besonders lohnenswert ist es dabei, dass die Geschichte vor dem Hintergrund eines realen, historischen Krieges abläuft, welcher der Reise eine ganz neue Dringlichkeit gibt und für jüngere Zuschauer*innen, die sich dieser finsteren Story gewachsen fühlen (eine vorherige Probesichtung der Eltern wird dabei dringend empfohlen), einige echte Lehrstunden bereithalten können, die allerdings sehr intensiv ausfallen. Doch "Pinocchio" ist nicht nur finster und erschreckend: Dank herzlicher Figuren bietet der Film auch sehr viel Gefühl, leisen Humor und stellt wichtige und richtige Fragen über Selbstakzeptanz, Akzeptanz von anderen Personen sowie Aufopferung. Das findet man in solch einem Film wirklich nicht oft und sollte daher als absolute Ausnahmeerscheinung angesehen werden, die es durchaus zu sehen lohnt. Die Leichtfüßigkeit der anderen Interpretationen geht diesem Werk dabei zwar deutlich ab, es gibt relativ wenig zu lachen und einige, zu Beginn noch originelle Ideen werden doch etwas zu arg ausgewalzt. Letztendlich verbietet sich aber ohnehin ein Vergleich mit den Disney-Versionen - obwohl sich beide den selben Titel und die gleiche Ausgangsidee teilen, sind sie so unterschiedlich, wie sie nur sein können und verdienen sich daher beide ganz klar eine Daseinsberechtigung.

Fazit: An den eigenwilligen, sehr düsteren Stil muss man sich erst gewöhnen, doch dann entwickelt sich daraus eine sehr herzliche und zugleich intensive Geschichte mit erwachsenen Themen und allerlei originellen Ansätzen, die sich von den bisherigen, kindlicheren Versionen extrem unterscheidet.

Note: 3+



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Eiskalte Engel

Die 90er Jahre waren das absolute Revival für die Teenager-Komödie, wobei so manch ein auch etwas verruchterer Klassiker entstand. Dabei gereichte es zur damaligen Zeit bereits für "American Pie", in welchem es sich zwar weitestgehend nur um Sex dreht, der aber dennoch recht harmlos daherkam, zu einem kleinen Skandal. Die logische Fortführung dessen war schließlich "Eiskalte Engel", wo der Sex nicht nur der Hauptfokus ist, sondern im Grunde den einzigen sinnigen Lebensinhalt der Hauptfiguren darstellt. Das ist dann zwar ziemlich heiß und gerade für einen Film der letzten Dekade, der sich an Teenies richtet, erstaunlich freizügig... aber auch sehr vorhersehbar und irgendwie auch ziemlich doof. EISKALTE ENGEL Für den attraktiven Jungspund Sebastian Valmont (Ryan Philippe) ist die Verführung von naiven, jungen Damen der Mittelpunkt des Lebens. Um dem ganzen einen zusätzlichen Reiz zu verschaffen, sucht er stets neue Herausforderungen und geht schließlich mit se

Eddie the Eagle - Alles ist möglich

"Das wichtigste bei den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme. Das wichtigste im Leben ist nicht der Triumph, sondern der Kampf." Dieses Zitat, welches den Film "Eddie the Eagle" abschließt, stammt von Baron Pierre de Coubertin, dem Begründer der Olympischen Spiele. Und es bringt den Kern der Geschichte, die in diesem Film erzählt wird, sehr gut auf den Punkt, denn um den Sieg geht es hier eigentlich nicht oder zumindest nicht sehr lange. Aber es wird gekämpft und das obwohl niemand dieses seltsame Gespann aus Trainer und Sportler wirklich ernstnehmen wollte - genau das ist das Herz dieses Biopics, welches viele Schwächen, aber zum Glück auch viel Herz hat... EDDIE THE EAGLE Für Michael Edwards (Taron Egerton) gibt es trotz einer bleibenden Knieverletzung nur einen Traum: Er will in einer Disziplin bei den Olympischen Spielen antreten. Schon in seiner Kindheit scheitert er beim Hammerwerfen und Luftanhalten und landet schließlich, sehr

Holzhammer pur: Filmkritik zu "Cherry - Das Ende aller Unschuld"

Mit achtzehn Jahren ist sich der Student Cherry (Tom Holland) sicher, in seiner Kommilitonin Emily (Ciara Bravo) die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Als diese ihn jedoch eiskalt verlässt, beschließt Cherry in seiner Trauer, sich für die Army zu verpflichten... noch nicht wissend, dass Emily ihre Meinung ändern und zu ihm zurückkehren wird. Doch der Schritt ist bereits getan und Cherry wird für zwei Jahre in den Irak versetzt, um dort für sein Land zu kämpfen. Die Erfahrungen, die er dort macht und die Dinge, die er dort sehen wird, lassen ihn völlig kaputt zurück... und machen schließlich auch die Rückkehr in seine Heimat und sein folgendes Leben zu einem irren Rausch verkommen, der nicht nur ihn selbst, sondern auch die Menschen um ihn herum zu zerstören droht. Die Brüder Anthony Joe und Russo, die mit dem genialen "Avengers"-Doppel "Infinity War" und "Endgame" zwei der erfolgreichsten und besten Filme unserer Zeit erschufen, holen Tom "Spid