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Eine atmosphärisch dichte Luftblase: Filmkritik zum Horror-Slasher "X" (2022)

Der Filmstudent RJ (Owen Campbell) ist gemeinsam mit seiner Freundin Lorraine (Jenna Ortega) und einer kleinen Crew, bestehend aus Schauspieler*innen und einem Produzenten, auf dem Weg zu einer Farm im ländlichen Texas. Dort soll an einem Abend der Dreh eines pornografischen Films stattfinden, den RJ jedoch künstlerisch deutlich wertvoller ausstaffieren will, um aufzuzeigen, dass auch "Schmuddelfilme" eine kreative Ader in sich tragen können. Doch der Dreh verläuft nicht vollständig nach Plan - so kommt es zu einem Streit zwischen RJ und der skeptischen Lorraine... und das alte Ehepaar, welches den Wohnort für die Crew zur Verfügung stellte, macht auch nicht den vertrauenswürdigsten Eindruck.

Wer sich heutzutage einen Horrorfilm von dem produzierenden Studio A24 ansieht, der ahnt eigentlich, dass dabei mehr herumkommt als ein handelsüblicher Slasher - und für "X" saß dann gar noch Ti West auf dem Regiestuhl, der nach seinen Beteiligungen in durchaus experimentellen und harten Dingern wie der Schockersammlung "VHS" oder dem blutigen "You're Next" ein kleines Comeback feiert. Und in der ersten Hälfte dieses Films merkt man, dass sich auch dieser Film nicht auf den üblichen Klischees ausruhen will, nimmt sich West doch erstaunlich viel Zeit, um seine Charaktere und die an und für sich nicht sehr komplexe, sondern gar altbekannte Ausgangssituation zu etablieren. Manch einer mag in diesen ersten fünfzig Minuten, in denen der Film recht clever mit düsterem Foreshadowing händelt, ungeduldig mit den Hufen scharren, doch entwickelt sich in dieser Phase ein ziemlich spannendes Figurenquartett, dem man nur zu gerne zuschaut. Das liegt zum einen an einer Besetzung, die für das Horrorgenre mehr als nur überdurchschnittlich daherkommt (insbesondere Mia Goth und "Scream"-Star Jenna Ortega glänzen mit einer enormen Ausstrahlung)... aber auch daran, dass die anfänglich klischeebehafteten Figuren im weiteren Verlauf eine erstaunliche Tiefe offenbaren.
Ein Film, der also als recht normaler Slasher beworben wurde, fängt dabei ein paar ganz feine Konflikte ein und nimmt sich ausladend Zeit dafür, Themen wie sexuelle Freiheiten, Altersdepressionen, Lust oder auch fehlende Lust sowie die Kreativität des Filmemachens anzusprechen und regelrecht auszutarieren. So gefällt die Figur des energischen Filmemachers RJ auch auf einer zweiten Ebene, wenn er einen naiven Pornofilm zu einer neuen Stufe der Filmkunst hochlancieren will, was sich in dieser Form sicherlich auch auf den klischeehaften Slasher übertragen lässt, der hier anmoderiert werden soll. Und auch die Dialoge sind letztendlich wirklich fein geschrieben, wenn der anfänglich "bravsten" Figur irgendwann soweit die Leviten gelesen werden, dass das eine ganzes Umdenken nach sich zieht. Mit einem sehr schönen Gespür für die inneren Ansichten der Charaktere, die in jedem anderen Horrorfilm die billigsten Karikaturen geworden wären, fährt man hier richtig, richtig gut und macht den Zuschauer noch dazu neugierig auf die Ideen, die in diesem offensichtlich sehr kreativen Film anschließend noch so kommen dürften.
Sobald diese jedoch aufs Publikum hereinbrechen sollten, fällt "X" im zweiten Teil maßgeblich auseinander, wenn die zuvor recht deutlich angeteasten Überraschungen und Wendungen teilweise ausbleiben oder recht schluderig durchexerziert werden. Es mag vielleicht der große Kniff sein, dass man sich nach einer ausführlichen und unterhaltsamen Charakterentwicklung doch noch aufs ausgelatschte Klischeefeld wagt, doch wirklich inspirierend inszeniert ist dieser fast schon notdürftige Slasher-Teil dann nicht mehr. Mit der Inspiration der letztendlichen Killer wagt man sich zwar noch auf ein recht unbeflecktes Terrain, doch die einzelnen Slasher-Szenen lassen jegliche Originalität vermissen. Die zuvor so sauber eingeführten Konflikte spielen in der zweiten Hälfte praktisch gar keine Rolle mehr, wenn auf sehr blutige und matschige Art und Weise eine Figur nach der anderen unrühmlich aus dem Film transportiert wird. Diese saubere Einführung entpuppt sich demnach als ebenso stimmige wie letztendlich unwichtige Startrampe eines ansonsten ziemlich generischen Slashers, der scheinbar gar nicht die Intention hatte, irgendwie mehr zu liefern als das Genre kennt. Das ist zwar überraschend, in seiner Emotionsarmut aber auch irgendwie schade und dümpelt deswegen sehr unaufgeregt aus. Das Vorspiel, wie es unsere Protagonisten gerne nennen würden, war daher deutlich aufregender als der eigentliche Akt... man darf diskutieren, ob das in diesem (ansonsten hervorragend inszenierten) Film so wirklich geplant war.

Fazit: Was sich zu Beginn noch nach einem sehr fein geschriebenen Horror-Slasher mit Tiefgang, Zeit und Atmosphäre anfühlt, kulminiert schließlich in einer klischeehaften und recht ärgerlichen Luftblase. Rein inszenatorisch ist "X" aber dem Gros der Horrorfilme der letzten Zeit spielend überlegen und agiert dabei äußerst kreativ in stimmungsvollen Bildern, ohne eine reine Hommage zu werden.

Note: 3



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