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The Irishman

Es ist definitiv einer der größten Filme des sich langsam dem Ende entgegenneigenden Kinojahres 2019... und trotzdem lief er nur wenige Tage in ausgewählten Kinos. Tatsächlich fand sich nämlich, so seltsam dies auch klingen mag, kein Studio, welches das neue Gangster-Epos von Meisterregisseur Martin Scorsese in die Kinos bringen wollte. Und schließlich nahm sich Netflix dem 200-Millionen-Dollar-Werk an und brachte es endlich auf seine Plattform - den Hype um dieses eventuelle Meisterwerk im Schlepptau und die hohen Erwartungen von Millionen Fans im Nacken spürend. Kann das wirklich gut gehen? Ist ein Film dieser Größenordnung auf dem heimischen Bildschirm gut aufgehoben? Und liefert Scorsese nach "Casino" und "GoodFellas" hier wirklich das nächste Genre-Meisterwerk ab, auf das ganze Generationen gewartet haben?

THE IRISHMAN


Amerika, in den 50er Jahren: Frank Sheeran (Robert De Niro) ist Lastwagenfahrer und lässt sich ein wenig zusätzliches Geld in die Kassen spülen, indem er manche seiner Waren unter der Hand an die Mafia vergibt. Als er auffliegt und nur durch die Genialität seines Anwalts Bill Bufalino (Ray Romano) rausgepaukt werden kann, hat er sich unter den Gangstern bereits einen Namen gemacht. Bufalino stellt Frank seinen Cousin Russell (Joe Pesci) vor und durch diesen dringt der Fahrer weiter in den Sumpf vor, bis er schließlich sogar beim berüchtigten Geschäftsmann und Politiker Jimmy Hoffa (Al Pacino landet), der Frank unter seine Fittiche nimmt...

Satte 209 Minuten ist Scorseses Gangster-Epos lang und sticht damit auch seine vorherigen Wuchtwerke aus - es ist offensichtlich, dass der "The Departed"-Regisseur hiermit sein ganz großes Ding geplant hat. Eben diese Laufzeit wiegt allerdings auch schwer, denn wenn man sich auch noch so sehr auf DEN Film dieses Herbstes gefreut hat... dreieinhalb Stunden sind eine lange Zeit und die muss man eben auch mal füllen. Auf die Frage, ob Scorsese dies denn kann, gibt es keine eindeutige Antwort. Denn generell hat er sein Werk atmosphärisch herausragend gut im Griff: Die Zeitreise zurück ins Amerika der 50er und 60er, der Einblick hinter die verschlossenen Türen der Mafia, die detailreiche Ausstattung - alles wie aus einem Guss, optisch hervorragend und dicht erzählt. 
Einen reinen Hauptplot auszumachen fällt, wie im ähnlich gearteten "GoodFellas" allerdings schwer, da sich Scorsese auch hier erneut mit seinem offensichtlichen Lieblingsthema auseinandersetzt: Der Aufstieg und langsame Fall eines Gangsters. Es klingt etwas rabiat, wenn man aussagt, dass er hiermit absolut nichts Neues erzählt und sich in einigen Bereichen gewissermaßen selbst kopiert. Das macht er zwar auf ganz starke Art und Weise, aber diesen einen Kniff, den Arschtritt, die Reise zu etwas ganz Eigenem, das bietet er nicht. Stattdessen inszeniert er einen Gangsterfilm mit gleich mehreren, zeitlich versetzten Rahmenhandlungen und erzählt die Geschichte eines Mannes über Dekaden hinweg. Da wechseln Gegenspieler und Freunde oft schon nach Minuten und man muss sich auf diese streckenweise doch er langsam erzählte Geschichte erst einmal einlassen. 
Wir sehen keinen packenden Thriller, bei dem uns alle paar Minuten eine neue Wendung aus dem Sessel haut, wir sehen keine Dauerfeuer-Action und keinen kohärenten Plot. Das fühlt sich, auch wenn der Ton ein völlig anderer ist, ein wenig an wie Quentin Tarantinos "Once Upon A Time in Hollywood" vom vergangenen Sommer, denn auch der entschied sich für sein neuestes Werk lieber dafür, ein Abbild einer Zeit und einer Szene zu zeigen, verzichtete auf eine packende Dramaturgie. Das kann man durchaus mögen, man kann sich aber auch davon verprellen lassen... denn wenn man sowas langweilig findet, ist es schwer, dafür sinnige Gegenargumente zu finden. Nun sind beide Werke sicherlich nicht als schnarchig zu beschreiben, ganz im Gegenteil, aber es fällt etwas schwer, sich emotional an einen Plot und an Charaktere zu binden, die eben keine gewohnte Dramaturgie durchlaufen. Und da wir Ähnliches (wenn auch meist um Welten schlechter) wie "The Irishman" schon gesehen haben, darf man da auch etwas kritischer sein, sich über einige Längen und zu flach gezeichnete Figuren aufregen. 
Scorsese hat ein Auge für akribische Details, hin und wieder übertreibt er es damit aber auch. Er hat auch ein Auge für großartige Schauspielführung, doch versauern große Stars wie Harvey Keitel, Jesse Plemons oder Marin Ireland eher in ihren überschaubaren Nebenrollen. Absolut großartig agiert dafür natürlich Robert De Niro, der hier der emotionale Anker ist und dem die Zuschauer folgen sollen. Ausgestochen wird dieser nur von einem Al Pacino, der hier jede Szene förmlich an sich reißt, während der endlich ins Filmgeschäft wiedergekehrte "Home Alone"-Star Joe Pesci jedoch "nur" gut und nicht überragend agiert. 
Und am Ende müssen wir auch über die vielbesprochene Verjüngungstechnik reden, die hier zum Einsatz kam, um De Niro und Co. eben dem gewissen Alter anzupassen. Diese macht hier tatsächlich einen sehr guten Eindruck und versagt nur in einzelnen Momenten, so zum Beispiel zu Beginn, wenn das plötzlich verjüngte Gesicht des Hauptdarstellers doch für herbe Kontraste sorgt. Und gerade in Nah- und vor allem Tageslichtaufnahmen ist festzustellen, dass diese Technik noch nicht hundertprozentig ausgereift ist, wie es vor einigen Wochen auch schon bei "Gemini Man" zu sehen war.

Fazit: Ja, "The Irishman" ist das große Gangster-Epos. Scorsese labt sich in Details, im Zeitgeist, im Gangster-Milieu und feuert atmosphärisch und inszenatorisch aus allen Rohren. Trotz der Größe des Projekts erzählt er allerdings gar nichts Neues und ist manchmal zu ausschweifend, weswegen es schwer ist, sich emotional weiter an den dramaturgisch eigensinnigen Plot zu binden.

Note: 3+




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