Direkt zum Hauptbereich

Manchester by the Sea

Es fehlte nur noch einer, nun sind sie komplett: Heute habe ich endlich den letzten Film der Best-Picture-Nominierten des Jahres 2017 gesehen. Ich habe mich nie gesträubt, mich hat "Manchester by the Sea", den ich im Kino verpasste, da er in meinem Stammlichtspielhaus leider nicht lief, sogar immer sehr interessiert. Erst jetzt, kurz nachdem Amazon Prime diesen aus seinem Programm nahm, habe ich ihn aber nachgeholt... und feststellen müssen, dass er sich dabei ins solide Mittelfeld der Konkurrenz einordnet. Er ist nicht so gut wie brillanten "La La Land" oder "Hacksaw Ridge", aber auch nicht so enttäuschend wie "Lion" und "Hell or High Water", obwohl er doch durch manch eine Stolperfalle tappt.

MANCHESTER BY THE SEA


Lee Chandler (Casey Affleck) hat ein turbulentes Leben hinter sich: Er hatte ein Alkoholproblem, suchte oft körperlichen Streit und nach einer furchtbaren Familientragödie verließ ihn auch seine Frau Randi (Michelle Williams). Als Lee vom Tod seines Bruders Joe (Kyle Chandler) erfährt, arbeitet er gerade als Hausmeister und führt ein Eigenbrödler-Dasein. Aus diesem wird er herausgerissen, als Joes Testament verlangt, dass Lee als gesetzlicher Vormund von Joes einzigem Sohn, dem sechzehnjährigen Patrick (Lucas Hedges), auftreten soll. Lee und auch Patrick sträuben sich zunächst und versuchen, andere Lösungen zu finden... bis sie sich letztendlich doch noch zusammenraufen müssen, um dem Wunsch ihres Vaters und Bruders nachzukommen.

Einen kleinen Schatten und eine ebenso interessante wie aufweckende Fußnote stellte die Auszeichnung Casey Afflecks als bester Hauptdarsteller dar. Da dem Schauspieler die sexuelle Belästigung zweier Frauen im Jahr 2010 vorgeworfen wurde (nachgewiesen wurde die Tat jedoch bis heute nicht offiziell), weigerte sich Vorjahresgewinnerin Brie Larson, die für "Raum" ausgezeichnet wurde, ihrem Kollegen zun applaudieren und verzog auch bei der Übergabe des Goldjungen kaum eine Miene. Ein Oscar-Moment, an den man sich sicherlich noch länger erinnern wird... dass Afflecks Leistung in "Manchester by the Sea" indes aber durchaus grandios ist, das lässt sich keinesfalls bestreiten. Bens kleiner Bruder spielt nuanciert, überzeichnet dabei nicht, lotet vor allem die ganz kleinen, allzu menschlichen Aspekte seines Charakters perfekt aus. Affleck ist einer dieser Schauspieler, die kaum wie ein Schauspieler wirken - gerade das macht seine Leistung, obwohl so unaufgeregt, auch so echt. 
Neben ihm spielt sich auch eine mal wieder absolut fantastische Michelle Williams vollkommen frei, die Entdeckung des Films war jedoch der junge Lucas Hedges. Der hat sich mittlerweile mit weiteren Haupt- und Nebenrollen wie in "Lady Bird" oder "Der verlorene Sohn" einen wahnsinnigen Status in Hollywood erspielt... und "Manchester by the Sea" war sein meisterhafter Startschuss in diese glanzvolle Arthouse-Karriere, der besser und nachdrücklicher kaum hätte sein können. In aller erster Linie ist der Film von "Gangs of New York"-Autor Kenneth Lonergan dann auch ein Schauspielerfilm - er erzählt sich über ruhige Momente, über Dialoge, über ungemeine Ausdruckskraft. Das wirkt dann hin und wieder durchaus etwas sperrig und hat innerhalb seiner manchmal schleppenden Laufzeit von 138 Minuten auch seine Längen. Diese sind es dann aber nicht, die "Manchester by the Sea" eine bessere Note kosten. 
Viel mehr störten mich Szenen und Momente, in denen Lonergan auf recht pathetische und aufdringliche Weise mit seiner atmosphärischen, leisen, menschlichen Inszenierung bricht. Dass nun wirklich jede Figur noch ein enormes Drama mit sich herumtragen muss, wirkt etwas überzeichnet und wenn der etwas zu laut eingespielte Soundtrack Lesley Barber in langen Zeitlupen dröhnt, kommt man sich gar ein wenig verschaukelt vor. Da gibt sich Lonergan eine solche Mühe, lässt sich so viel Zeit, um seine Charaktere so menschlich und nahbar wie möglich zu zeichnen, um in einigen Momenten doch wieder dem Drama-Standard zu verfallen - das wirkt dann leider wieder ziemlich unecht. 
Darunter zu leiden hat auch die Beziehungsgeschichte zwischen Lee und Randi: Das Drama, welches sie auseinanderdriften ließ, ist zwar in jeglicher Hinsicht schockierend, es wirkt aber innerhalb dieser Überzeichnung auch nicht ganz glaubwürdig. Da sind die wesentlich gedeckelteren und menschlicheren Konflikte, die im Nachhinein ausgetragen werden, nicht nur wesentlich besser geschrieben, sondern auch vom Skript besser ausgegoren. An einigen Ecken und Enden hapert es also, was aber natürlich nicht heißt, dass "Manchester by the Sea" insbesondere dank seiner grandiosen Darsteller kein guter Film geworden ist. Er verhaspelt sich nur manchmal, was angesichts seiner ansonsten so brillanten Inszenierung doch etwas enttäuschend ist.

Fazit: Grandios gespielt, mit viel Ruhe und Liebe zum persönlichen Detail - Kenneth Lonergan entwickelt menschliche Figuren und Momente stiller Eindringlichkeit, schießt in manch einem kalkulierten Überdrama aber auch hin und wieder zu arg übers Ziel hinaus.

Note: 3+




Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Eiskalte Engel

Die 90er Jahre waren das absolute Revival für die Teenager-Komödie, wobei so manch ein auch etwas verruchterer Klassiker entstand. Dabei gereichte es zur damaligen Zeit bereits für "American Pie", in welchem es sich zwar weitestgehend nur um Sex dreht, der aber dennoch recht harmlos daherkam, zu einem kleinen Skandal. Die logische Fortführung dessen war schließlich "Eiskalte Engel", wo der Sex nicht nur der Hauptfokus ist, sondern im Grunde den einzigen sinnigen Lebensinhalt der Hauptfiguren darstellt. Das ist dann zwar ziemlich heiß und gerade für einen Film der letzten Dekade, der sich an Teenies richtet, erstaunlich freizügig... aber auch sehr vorhersehbar und irgendwie auch ziemlich doof. EISKALTE ENGEL Für den attraktiven Jungspund Sebastian Valmont (Ryan Philippe) ist die Verführung von naiven, jungen Damen der Mittelpunkt des Lebens. Um dem ganzen einen zusätzlichen Reiz zu verschaffen, sucht er stets neue Herausforderungen und geht schließlich mit se

Eddie the Eagle - Alles ist möglich

"Das wichtigste bei den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme. Das wichtigste im Leben ist nicht der Triumph, sondern der Kampf." Dieses Zitat, welches den Film "Eddie the Eagle" abschließt, stammt von Baron Pierre de Coubertin, dem Begründer der Olympischen Spiele. Und es bringt den Kern der Geschichte, die in diesem Film erzählt wird, sehr gut auf den Punkt, denn um den Sieg geht es hier eigentlich nicht oder zumindest nicht sehr lange. Aber es wird gekämpft und das obwohl niemand dieses seltsame Gespann aus Trainer und Sportler wirklich ernstnehmen wollte - genau das ist das Herz dieses Biopics, welches viele Schwächen, aber zum Glück auch viel Herz hat... EDDIE THE EAGLE Für Michael Edwards (Taron Egerton) gibt es trotz einer bleibenden Knieverletzung nur einen Traum: Er will in einer Disziplin bei den Olympischen Spielen antreten. Schon in seiner Kindheit scheitert er beim Hammerwerfen und Luftanhalten und landet schließlich, sehr

Holzhammer pur: Filmkritik zu "Cherry - Das Ende aller Unschuld"

Mit achtzehn Jahren ist sich der Student Cherry (Tom Holland) sicher, in seiner Kommilitonin Emily (Ciara Bravo) die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Als diese ihn jedoch eiskalt verlässt, beschließt Cherry in seiner Trauer, sich für die Army zu verpflichten... noch nicht wissend, dass Emily ihre Meinung ändern und zu ihm zurückkehren wird. Doch der Schritt ist bereits getan und Cherry wird für zwei Jahre in den Irak versetzt, um dort für sein Land zu kämpfen. Die Erfahrungen, die er dort macht und die Dinge, die er dort sehen wird, lassen ihn völlig kaputt zurück... und machen schließlich auch die Rückkehr in seine Heimat und sein folgendes Leben zu einem irren Rausch verkommen, der nicht nur ihn selbst, sondern auch die Menschen um ihn herum zu zerstören droht. Die Brüder Anthony Joe und Russo, die mit dem genialen "Avengers"-Doppel "Infinity War" und "Endgame" zwei der erfolgreichsten und besten Filme unserer Zeit erschufen, holen Tom "Spid